Leo Klinke, Wahrnehmung vergangener Landschaften. Studien zur Entwicklung einer Kulturlandschaft im nördlichen Münsterland vom Spätneolithikum bis ins Spätmittelalter aus emischer Perspektive (Veröffentlichungen der Altertumskommission für Westfalen 23) Münster 2023, Aschendorff Verlag, 302 S., farb. Abb., Karten, Diagramme, ISBN 978-3-402-15011-5, EUR 39. – Die Monographie, die auf einer Münsteraner Diss. aus dem Jahr 2021 beruht, geht zurück auf das bei der Altertumskommission für Westfalen angesiedelte Projekt „Megalithik in Westfalen“. K., der als wiss. Mitarbeiter an dem Projekt beteiligt war, dehnte den Untersuchungszeitraum seiner landschaftsarchäologischen Studie indes bis auf das Spät-MA aus, in der Absicht, mittels der von ihm entwickelten Theorie und Methode zur Landschaftswahrnehmung einmal exemplarisch „eine diachrone Geschichte der (Kultur-)Landschaftsentwicklung zu rekonstruieren“ (S. 1). Grundsätzliche Überlegungen und Definitionen zu „Landschaft“ und „Landschaftsarchäologie“ sowie den damit verknüpften Begriffen sind der Einleitung zu entnehmen ebenso wie eine Konkretisierung der im Titel genannten „emischen Sicht“. Diese meint die wechselseitige Einflussnahme von Natur und Kultur und will Antwort geben auf die Frage, wie die Wahrnehmung der sie umgebenden Landschaft auf die Menschen und ihre Handlungsentscheidungen einwirkte, sie dazu bewog, ihre Umgebung vice versa entsprechend ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten umzugestalten (S. 1–26). Als Untersuchungsraum wurde eine 625 Hektar große quadratische Fläche zwischen den Gemeinden Westerkappeln und Lotte-Wersen inmitten des sogenannten Osnabrücker Hügellands gewählt. Die schon seit der Jungsteinzeit besiedelte Region bietet mit ihren heute noch sichtbaren, obertägigen Monumenten geradezu ideale Bedingungen: Neben dem spätneolithischen Megalithgrab Große Sloopsteene finden sich dort auch Spuren eines zweiten Großsteingrabs, zweier endneolithischer bzw. eisenzeitlicher Grabhügelfelder, landwirtschaftlich genutzter Flächen der Eisenzeit (Celtic Fields) und des MA (Wölbäcker), eines spätma. Landwehrteilstücks und nicht zuletzt Hohlwegtrassen verschiedener Zeitstufen (S. 27–54). K. identifiziert insbesondere drei Zeitscheiben, in denen es zu tiefgreifenden Veränderungen in der Landschaft kam: das Spätneolithikum (3350–2850 calBC), die Metallzeiten (2350–420 calBC) und das Spät-MA (1250–1450 calAD) (S. 89–92, 195–232). Der Datenerhebung mittels Prospektion (S. 55–87) und Wegeforschung (S. 129–194) sowie der digitalen Rekonstruktion der (prä-)historischen Landschaften (S. 89–128) sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Für das DA von Interesse ist die Auswertung der archäologischen Daten für die Jahre 1250–1450 unter Einbeziehung schriftlicher Quellen (S. 222–232). In dieser Zeitspanne verlor der Landschaftsraum, der seit dem Neolithikum kontinuierlich als Sepulkrallandschaft genutzt wurde, seine bisherige Funktion. K. macht hierfür zwei Faktoren verantwortlich. Der erste betrifft den soziokulturellen Wandel. Wenig überraschend kann in der spätma. Phase keine Anlage neuer Grabhügel mehr verzeichnet werden. K. führt dies auf die Christianisierung der Sachsen und das in der Capitulatio de partibus Saxoniae fixierte Bestattungsverbot ad tumulos paganorum (MGH Fontes iuris 4 S. 69 c. 22) zurück. Demgegenüber ergab die Analyse der Wegetrassen, dass die bestehenden prähistorischen Sepulkralbauten bis auf eine Ausnahme im MA weder abgetragen noch überprägt wurden. Die Wege führten vielmehr bewusst darum herum, den Grabdenkmälern kam weiterhin eine die Landschaft strukturierende Funktion zu. Ob diese Art der Wegeführung tatsächlich auf den „Aberglauben“ der spätma. Akteure zurückgeführt und als bewusste Meidung von „beängstigend oder unheilvoll gedachten Totenplätzen“ (S. 232) interpretiert werden kann, sei dahingestellt; fraglich ist auch, ob die Gräber derart „offensichtlich als Elemente kultureller Tradition bzw. Erinnerung erkannt und geachtet“ (S. 219) wurden, wie K. suggeriert. Eine intensivere Auseinandersetzung mit schriftlichen Quellen hätte hier Klarheit schaffen können: Schon 1982 hat die auf Rechtsquellen des 8.–15. Jh. basierende Forschung von Klaus Sippel (vgl. DA 38, 321) für das Gebiet des heutigen Baden ergeben, dass vorzeitliche Grabhügel und Megalithgräber in der Regel recht pragmatisch als natürliche Grenzmarkierungen Verwendung fanden, zumal die Kenntnis ihrer ursprünglichen Deutung ab dem 13. Jh. merklich abnahm. Während das erste Erklärungsmodell nicht wirklich überzeugt, verfängt das zweite schon eher. Als zweiten Faktor für die veränderte Landschaftswahrnehmung und -nutzung nennt K. eine Kombination aus ökodeterministischen Faktoren und politischem Kalkül. Off-Site-Pollenprofile legen den Schluss nahe, dass die klimatischen Veränderungen, die sich im Vorfeld der Kleinen Eiszeit bereits ankündigten, auch den Untersuchungsraum beeinflussten. Die Böden wurden feuchter, und außer über eine trockene Passage auf der Anhöhe am „Gabelin“, den nicht zuletzt eine der überregionalen Verkehrsrouten kreuzte, war eine Durchquerung der sumpfigen Niederungen kaum mehr möglich. Auf eben dieser Erhebung wurde ein aus Wällen und Gräben bestehendes, mittlerweile vollständig zerstörtes Landwehrteilstück errichtet. Zweck der Anlage war wohl neben der Kontrolle von Menschen und Waren zum einen die Festigung der Verwaltungsgrenze zwischen den Kirchspielen Westerkappeln und Wersen, zum anderen der Schutz der dahinterliegenden Agrarflächen. Die erste der beiden Bauphasen der Landwehr, die K. als „Inszenierung von politischen, territorialen und auch landschaftlichen Machtansprüchen“ (S. 240) wertet, könne zwischen 1382 und 1400 verortet werden, in jenen Jahren also, in denen die Quellen darüber berichten, dass der Ausbau der Osnabrücker Stadtlandwehr auf Grund wiederholter Fehden zwischen dem Bischof von Osnabrück und dem Grafen von Tecklenburg entschieden vorangetrieben wurde. – Ein Ziel der Arbeit war es, sich den „kognitiv-mentalen Denkkonzepten der (prä-)historischen Akteurinnen und Akteure […] auf Grundlage landschaftsarchäologischer Forschung“ anzunähern (S. 2f.). Resümierend lässt sich feststellen, dass dies meist überzeugend gelungen ist, eine intensivere Auswertung schriftlicher Quellen für das Spät-MA aber zu einer Schärfung des Gesamtbilds hätte beitragen können. Dies soll das Verdienst der Arbeit jedoch nicht schmälern.
A. N.
(Rezensiert von: Anna Claudia Nierhoff)