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Das 15. Jahrhundert, hg. von Günter Frank / Franz Fuchs / Mathias Herweg (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 15) Stuttgart-Bad Cannstatt 2021, 559 S., Abb., ISBN 978-3-7728-2887-4, EUR 68. – Lang ist’s her, dass der Eröffnungsvortrag einer wissenschaftlichen Tagung mit Worten beginnen musste wie: „Unter den deutschen Jahrhunderten des Mittelalters verdient das 15. die schlechteste Note. Zensuren wie Dekadenzgefühl, ‘Zerrüttung des Reiches’, ‘Verderbnis der Kirche’, Niedergang des Rittertums, der kulturellen Rückständigkeit gegenüber dem Quattrocento Italiens bieten sich an“ (Hermann Heimpel, Das deutsche 15. Jahrhundert in Krise und Beharrung, in: VuF 9, 1965, S. 9–29, hier S. 9). Wie viel seither in der Forschung geschehen ist, wie umfassend sich Akzentsetzungen und Wertungen verändert haben, davon legt dieser Band ein eindrucksvolles Zeugnis ab, der eine Tagung dokumentiert, die im Herbst 2017 in Bretten in Kooperation zwischen dem Department für Mediävistik am Karlsruher Institut für Technologie (Universitätsbereich) und der Melanchthon-Akademie stattfand. Der äußere Anlass der Tagung waren die 500 Jahre seit dem Schlüsseljahr der Reformation 1517 (S. 9), und den theologisch-kirchengeschichtlichen Impetus merkt man dem Band an. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist Friedrich III., ein eigener Beitrag zu Maximilian I. hätte, gerade vor dem Hintergrund häufiger Problematisierungen von Epochenfragen, dem Werk nicht schlecht getan. So problematisch inzwischen Formulierungen wie „Jahrhundert der Mitte“ und das Hantieren mit Schlagworten wie „Tradition“ und „Erneuerung“ vor dem Hintergrund eines „Übergangs“ zwischen MA und Neuzeit erscheinen mögen, der Band knüpft in seiner Grundkonzeption vom „langen 15. Jahrhundert“ etwa zwischen dem Beginn des Abendländischen Schismas 1378 und der Reformation 1517 dezidiert an das ausgewogene Werk Erich Meuthens (1929–2018) an, der bereits vor mehreren Jahrzehnten die Zeit als eigenständige Epoche gedeutet hat (vgl. DA 37, 387f.). Der erste Abschnitt ist mit „Historisch-historiographische Zugänge“ überschrieben. Er wird eröffnet von Franz Fuchs, Kaiser Friedrich III. und der dritte Friedrich (S. 19–27), der sich mit den seit dem 13. Jh. auftretenden Weissagungen und Prophetien eines „dritten Friedrich“ beschäftigt und auf zahlreiche bisher noch nicht bekannte Varianten des Vatiziniums hinweist, die sich auf den Habsburgerkaiser beziehen. Dabei wird auch auf die Gegensätze zwischen den Prophezeiungen und dem Charakter des historischen Friedrich, die schon den Zeitgenossen auffielen, Wert gelegt; letzteres war im Fall des Trithemius eindeutig positiv konnotiert. – Gabriele Annas, Kaiser Friedrich III. und die Reichsversammlungen des 15. Jahrhunderts. Beobachtungen zu politischen Aushandlungs- und ‘Clearing’-Prozessen (S. 29–53), beschäftigt sich auf der Grundlage jahrzehntelanger Forschungen (vgl. DA 62, 788f.) mit dem Spannungsverhältnis zwischen Königtum und Reich in der Entwicklung des Reichstags im 15. Jh., betont noch einmal den wichtigen Prozessschritt des Großen Regensburger Christentags von 1471, sieht darin die Etablierung von protokurialen Beratungsformen und das definitive Ende der Zeit der kurfürstlichen Reichsversammlungen und den Weg zum Reichstag des 16. Jh. vorbereitet. – Daniel Luger, Humanismus am Königshof Friedrichs III. vor Enea Silvio Piccolomini? Ein frühhumanistischer Gelehrtenkreis um Erzbischof Jakob von Trier († 1456) in der Reichskanzlei (S. 55–77), beantwortet die Titelfrage insofern positiv, als er konstatiert, dass bereits zu Beginn der Regierungszeit Friedrichs III. in der königlichen Kanzlei eine gewisse Offenheit gegenüber dem italienischen Renaissance-Humanismus festzustellen sei, als deren Auslöser der in diesen Zusammenhängen wenig beachtete Trierer Erzbischof Jakob von Sierck (1439–1456) zu gelten habe. – Achim Thomas Hack, Eleonores Meerfahrt. Ein Augenzeugenbericht aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (S. 79–103), untersucht die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Schilderung Nikolaus Lankmanns von Falkenstein, jenes aus Niederösterreich stammenden Klerikers, der als Augenzeuge die nicht ungefährliche Seereise Eleonores von Portugal von November 1451 bis Februar 1452 von ihrer iberischen Heimat nach Livorno beschrieb (von dort ging es dann weiter nach Siena, wo das berühmte Treffen mit Friedrich III., ihrem zukünftigen Gemahl, stattfand). – Christof Paulus, Friedrich III. und sein Schwiegersohn Albrecht IV. (S. 105–151), beschäftigt sich mit dem komplexen Verhältnis des Habsburgerkaisers zu dem Wittelsbacher der Münchener Linie und ediert im Anhang eine in der Württembergischen Landesbibl. Stuttgart aufbewahrte Kaiser- und Königschronik (von Julius Caesar bis zu Maximilian I.) des Ingolstädter Juristen Dietrich von Reisach von 1504 (S. 119–151). – Joachim Schneider, Geschichtsschreibung im Reich des 15. Jahrhunderts (S. 153–174), betont den Reichtum partikularer Geschichtsvorstellungen im „vielfältig differenzierten“ Reich des 15. Jh. und diagnostiziert im Hinblick auf Land und Hof beachtliche historiographische Impulse, die sehr häufig mit den vor Ort regierenden Dynastien zusammenhingen; in Bezug auf städtische Texte sei davor zu warnen, in jedem Fall automatisch eine Widerspiegelung der historischen Identität einer Stadtgesellschaft zu sehen. – Chantal Camenisch, Frost, Maikäfer und Ernteglück. Europa im 15. Jahrhundert aus klima-, umwelt- und wirtschaftshistorischer Perspektive (S. 175–194), stellt unter anderem fest, dass das Klima sich im kontinentalen Nordwesteuropa durch kalte Winter und Frühjahre in den 1420er und 1430er Jahren ausgezeichnet habe; in den 1450er Jahren seien zudem eine Reihe von extrem nassen Sommern festzustellen, ebenso in den Jahren 1480, 1488 und 1491. – Der zweite Abschnitt trägt den Titel: „Literarische Aspekte“. Den Reigen eröffnet Jan-Hendryk de Boer, Auswege aus der verdoppelten Realität. Humanistische Dialoge im Italien des 15. Jahrhunderts (S. 197–246), der nachweist, dass die Dialoge der zweiten Hälfte des 15. Jh. die der Gattung immanente Verdoppelung der Realität überwinden und eine Einheit des Sinns wiederherstellen wollten. – Günter Frank, Die Geburt Europas – Enea Silvio Piccolominis Europa-Bild (S. 247–258), zeigt, dass Enea in dem vieldiskutierten Brief an Sultan Mohammed ein Europa-Bild entworfen habe, das sich zwar an die geographischen Vorstellungen der Antike angeschlossen habe, in das aber zugleich mit der Idee einer europäischen Werte- und Bildungsgemeinschaft sowie eines Europa der gleichberechtigten Religionen zukunftsweisende Elemente hineingezeichnet seien. – Joachim Hamm, Auctor und interpres im Dialog. Sebastian Brants Beiträge zur „Stultifera navis“ (1497) (S. 259–288), stellt fest, dass der Dialog von auctor und interpres auf die medialen Bedingungen, Prägungen und Inszenierungsformen von Autorschaft in der Umbruchszeit des späten 15. Jh. verweise. Brants Beteiligung an der Publikation umfasste die Korrektur von Errata, stilistische Verbesserungen, kleinere inhaltliche Änderungen am Text, die Hinzufügung von Marginalnoten sowie eigene poetische Paratexte und Ergänzungen; erkennbar werde ein neues, stark medial geprägtes Verständnis von Autorschaft, das dezidiert auf Urheberschaft poche und die Kontrolle über das Werk nicht abgeben wolle. – Dirk Werle, Bibliothek, Buchdruck und gelehrte Konstellation in Gedichten des Heidelberger Frühhumanisten Adam Werner von Themar (S. 289–301), ordnet die literarischen Produkte seines Protagonisten als frühe Dokumente der Gutenbergverehrung ein. – Werner Williams-Krapp, Du sollst predig gern hörn oder guoten buoch lesin. Zur literarischen Versorgung der Laien mit geistlichem Schrifttum im 15. und frühen 16. Jahrhundert (S. 303–320), stellt fest, dass ein Großteil der Laien der Stadt Nürnberg durchaus in der Lage gewesen sei, die Kontroversen, die den Kern des reformatorischen Diskurses bildeten, nachzuvollziehen; die Demokratisierung der Schriftlichkeit habe die Türen für Kritik an der Kirche und ihren Institutionen weit geöffnet. – III. Theologie- und Kirchengeschichte: Berndt Hamm, Die theologische Dynamik des 15. Jahrhunderts (S. 323–373), zeigt die Wirkung theologischer Debatten und Kontroversen und unterstreicht den intensiven Zusammenhang zwischen der theologischen Dynamik des 15. Jh. und den Antriebskräften der Reformation. – Ulrich Köpf, Typen der Theologie im 15. Jahrhundert (S. 375–402), arbeitet drei Grundtypen theologischer Zusammenarbeit heraus: 1. die Theologie an den höheren Bildungseinrichtungen, 2. die Theologie in Klöstern, 3. die humanistische Theologie, wobei es immer wieder Überschneidungen gegeben habe oder auch Theologen, die sich kaum in dieses Raster einordnen ließen, das bekannteste Beispiel sei Nikolaus von Kues. – Reinhold Rieger, Neue theologische Hermeneutik im 15. Jahrhundert? (S. 403–435). – Ueli Zahnd, Welche Nominalisten? Eine Spurensuche unter Theologen des 15. Jahrhunderts (S. 437–454), geht kritisch mit dem Begriff des Nominalismus um und kommt zu dem Schluss, dass von einem Siegeszug in der Theologie des 15. Jh. keine Rede sein könne. – Maarten J. F. M. Hoenen, Scientia Sophistica and the Limits of Late Medieval Scholasticism (S. 455–469), beschäftigt sich mit dem bekannten Wegestreit und charakterisiert Nikolaus von Kues (aus dem Blickwinkel der akademischen Kultur des 15. Jh.) als „odd man“ (S. 469); vielleicht habe Cusanus – mehr als jeder andere Gelehrte seiner Zeit – gesehen, wo ein Ausbruch aus der lähmenden Situation dieses Streits möglich gewesen sei. – Mikhail Khorkov, Verständnis der Weisheit und Streit über die mystische Theologie bei den Kartäusern im 15. Jahrhundert (S. 471–489), vermutet, dass die Dialoge De Idiota des Nikolaus von Kues von den Erfurter Kartäusern insofern ohne große Schwierigkeiten in ihre Bibliothek aufgenommen werden konnten, als ein Erfurter Mitbruder des Johannes de Indagine diese kopiert und sie zu einer Anthologie mystischer Texte zusammengefügt habe. – Die beiden letzten Beiträge befassen sich mit Musiktheorie und Kunst: Hyun-ah Kim, In Search of Decorum: The Humanist Union of Music, Rhetoric and Moral Philosophy in the Late Fifteenth Century (S. 493–508), beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem aus Lodi gebürtigen Franchinus Gaffurius (1451–1522), Kapellmeister, Komponist und Musiktheoretiker. Die Vf. ordnet seine Schriften ein in die musiktheoretischen Diskurse zwischen Boethius und der Renaissance und stellt abschließend fest, dass er in seinen Anschauungen zahlreiche Reformen des 16. und 17. Jh. vorweggenommen habe, die darauf abzielten, die intellektuellen und moralischen Standards der Musiker zu erhöhen, besonders derjenigen, die als Organisten oder Chorleiter in kirchlichen Institutionen beschäftigt waren. – Alexandra Carmen Axtmann, Tradition und Innovation in der deutschen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts – Miniaturen auf dem Weg zum autonomen Bild (S. 509–535), weist auf die zahlreichen Neuerungen in der Graphik im 15. Jh. hin (Holzschnitt, Kupferstich, Metallschnitt, Teigdruck) und untersucht das Wechselverhältnis zwischen diesen Innovationen und der traditionellen Buchmalerei. – Ein Personen- wie ein Sachregister (S. 549–559) erschließen den Band. Sein Wert besteht weniger in der Veränderung einer (trotz aller seit je bestehenden Unsicherheit über den epochengeschichtlichen Ort der Zeit) in der Wissenschaft etablierten Grundkonzeption, sondern in zahlreichen neuen Erkenntnissen im Detail. Im Rahmen neuerer Entwürfe eines ‘globalen MA’ oder jener jetzt neu aufgekommenen radikalen Infragestellung des MA-Konzepts wird die Diskussion um das 15. Jh. sicher weitergehen.

Jörg Schwarz

(Rezensiert von: Jörg Schwarz)