Der Bardewiksche Codex des Lübischen Rechts von 1294, Bd. 1: Faksimile und Erläuterungen; Bd. 2: Edition, Textanalyse, Entstehung und Hintergründe, hg. v. Natalija Ganina / Albrecht Cordes / Jan Lokers, Oppenheim am Rhein 2021, Nünnerich-Asmus Verlag & Media, 372 u. 512 S., Abb., ISBN 978-3-96176-166-1, EUR 40 (Bd. 1); ISBN 978-3-96176-179-8, EUR 40 (Bd. 2). – Zum 200. Jahrestag seiner Gründung hat sich der Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde im Jahr 2021 ein ebenso prächtiges wie bleibendes Geschenk gemacht – die Edition und wissenschaftliche Auswertung des Bardewikschen Codex des Lübischen Rechts (derzeit Jurjevets, Museen der Stadt Jurjevets, JuKM-2010). Mit dieser Ausgabe gelingt es, zu den in den vergangenen Jahren sehr aktiven Forschungen und Publikationen zum Magdeburger Rechtskreis aufzuschließen. Nachdem in Bd. 1 in einem prachtvollen Faksimile mit Erläuterungen zunächst die Quelle vorgestellt wurde, setzt man sich in Bd. 2 inhaltlich mit ihr auseinander. Zunächst legen Nigel F. Palmer / Natalija Ganina in Zusammenarbeit mit Robin Kuhn (S. 11–108) die verdienstvolle Edition des Bardewikschen Codex des Lübecker Stadtrechts vor. Sie sehen diese einesteils als Lesetext zum Vergleich mit dem Faksimile, andernteils als kritische Edition des Codex, in der u.a. Datierungsvorschläge und Zuschreibungen an ca. 20 Schreiber über etwas mehr als 50 Jahre gemacht und eine inhaltliche Ordnung vorgenommen werden. Die niederdeutschen Artikel werden mit Konkordanzen zur Edition von Gustav Korlèn (1951) und der Göttinger Hs. Staats- und Univ.-Bibl., ms. jurid. 807, von 1263 wiedergegeben und übersetzt. Allein diese Übersetzung stellt eine bewundernswerte, nicht hoch genug einzuschätzende Leistung dar, bereitet sie das umfangreiche Material doch für eine moderne Diskussion und Nutzung auf. Natalija Ganina (S. 112–125) liefert im Anschluss eine Hss.-Beschreibung und geht auf den materiellen Befund, die Schrift (22 Hände zwischen 1294 und 1376), Buchmalerei (237 Ornamentalinitialen, 7 historisierte Initialen und 15 einfache Initialen), spätere Redaktionen und Randeinträge, Sprache, Besitzvermerke des Jurjevetser Museums, Inhalt der einzelnen Blätter und bisherige Abdrucke ein. Sehr detailliert untersucht dann Nigel F. Palmer (S. 126–192) „Schriftlichkeit und Paläographie“ und verfolgt u.a. die Bemühungen des Lübecker Rates um eine schriftlich kodifizierte Fassung des Stadtrechts, die von zahlreichen Städten des Lübecker Rechtskreises immer wieder und mit Nachdruck gefordert wurde, da sie in der täglichen Rechtspraxis dringend gebraucht wurde. P. stellt die verschiedenen mittelniederdeutschen Hss. zwischen 1267 und ca. 1350 vor und konzentriert sich auf einen detaillierten Vergleich zwischen Kieler (Stadtarchiv, Nr. 79413) und Bardewiker Codex. Judith H. Oliver (S. 193–215) wendet sich dem Buchschmuck zu und geht ausführlich auf einzelne, prächtig abgebildete Gestaltungselemente ein; detailliert die Initialen behandelt Inna Mokretsova (S. 216–221). Von derselben Vf. (S. 222–233) stammt ein Aufsatz, in dem sie die Geschichte der Auffindung der Hs. im Museum von Jurjevets erzählt und detailliert und reich illustriert über die Restaurierung berichtet. Irina F. Kadikova (S. 234–249) stellt die Inhaltsstoffe der Farben vor und belegt den Einsatz unterschiedlichster Pigmente. In einem zweiten Abschnitt wird die Sprache des Codex untersucht. Dieser Aufgabe unterzieht sich Friedel Helga Roolfs (S. 252–282). Sie geht vor allem auf orthographische, phonetische, morphologische und lexikalische Merkmale, ost- und westfälische Einflüsse und das Kolophon ein. Im dritten Teil des Bandes geht es um den Inhalt: das Lübische Recht. Albrecht Cordes (S. 286–303) gibt einen Überblick über seine Inhalte und benennt Familien-, Erb- und Grundstücksrecht, Ausführungen zum Rat der Stadt als verfassungsgeschichtliches Kernstück, Strafrecht, Regeln zum Zusammenleben in der Stadt sowie das Kauf-, Handels- und Seerecht. Ein vierter Teil ist dem „Umfeld, in dem der Codex entstand“, gewidmet. Zunächst gibt Jan Lokers (S. 306–341) hier einen Bericht über Verfassung, Politik und Wirtschaft in Lübeck um 1300, um dann den Gewandschneider Albrecht von Bardewik, dessen Familie und sein Wirken als Ratsmitglied und Politiker vorzustellen und schließlich die Entstehung des Codex in andere von ihm in Auftrag gegebene Werke einzubetten. Natalija Ganina (S. 342–353) stellt Aufzeichnungen eines Unbekannten über Ereignisse von 1316–1320 vor, die als Fragment in dem Codex überliefert sind. Jürgen Wolf (S. 354–369) wirft einen Blick in das Lübische Kanzlei-Skriptorium und legt Schriftanalysen zu mehreren Kanzleien (Reval, Kiel, Lübeck) vor. In einem weiteren Beitrag gibt ders. (S. 370–395) zunächst eine unvollständige Übersicht über die Bewidmungen zahlreicher Städte mit Lübischem Recht. Er weist dann eine Serienproduktion von Rechtsbüchern in der Lübecker Kanzlei seit 1250 nach, folgt dem Weg zu einer „Lübischen Buchnorm“ und geht auf die politische Dimension der lübischen Rechtshss. ein. Verdienstvoll ist, dass sich ein abschließender Block mit der Editionsgeschichte des Codex befasst. Die ehemalige Stadtarchivarin Antjekathrin Grassmann (S. 398–413) zeigt, dass der Lübecker Senator Johann Friedrich Hach bereits vor über 200 Jahren den Plan gefasst hatte, die Edition zu betreiben. Die Beschäftigung mit dem MA sollte ausgehend von der 1819 in Frankfurt/Main gegründeten „Gesellschaft für ältere Geschichtskunde“ den Blick auf gemeinsame Wurzeln des Deutschen Bundes legen. Die Gründung einer entsprechenden Lübecker Vereinigung 1821 und die Rückbesinnung auf ma. Größe waren da nur folgerichtig. G. würdigt Hachs Lebensweg und seine Verdienste um die Herausgabe des Lübischen Rechts, für die er sechs lateinische und 30 niederdeutsche Hss. bis zum revidierten Lübischen Recht von 1586 zugrunde legte und die schließlich 1839 in seinem vielfach gewürdigten Buch „Das Alte Lübische Recht“ gipfelten. Anschließend stellt Alexander Krey (S. 414–451) Ferdinand Frensdorff vor und zeigt ausführlich dessen Ringen und letztliches Scheitern an der Neuedition des Lübischen Rechts. Die Hoffnungen auf eine solche waren besonders durch seine 1861 veröffentlichte Habilitation, das bis heute lesenswerte Buch „Die Stadt- und Gerichtsverfassung Lübecks im XII. und XIII. Jahrhundert“ genährt worden. Auch wenn er zwischen 1877 und 1912 127 Doktoranden zu ma. Themen promovierte und immer wieder ehrfürchtig als „Altmeister“ der Rechtssprachwissenschaft, der städtegeschichtlichen Forschung, der hansischen Rechtsgeschichte und der Göttinger Geschichtsschreibung tituliert wurde, scheiterte sein Vorhaben. K. vermutet den Grund dafür in seiner lebenslangen Einzelgängerschaft und seinen (zu) hohen Maßstäben an die eigene Arbeit, die deshalb nur in qualitativ hochwertigen Bruchstücken überliefert ist. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein zuverlässiges Orts-, Personen- und Sachregister zu Band 1 und 2 der Edition, ein leider unvollständiges Hss.-Verzeichnis zum Lübischen Recht sowie eine sehr wichtige Konkordanztafel der Lübecker Rechtshss., die für spätere Forschungen sehr willkommen ist, runden den verdienstvollen, auch optisch liebevoll gestalteten Band ab, der den Ausgangspunkt für hoffentlich zahlreiche weitere Forschungen zum Lübischen Recht und seinen Quellen auf diesem hohen Niveau bilden möge – Anknüpfungspunkte und offene Fragen werden zahlreich benannt. Dass es immer noch Neues und Überraschungen gibt, zeigt ein erst 2021 aufgetauchtes Fragment im Wismarer Archiv, das für diesen Band nicht mehr berücksichtigt werden konnte, mittlerweile aber der Forschung bekannt ist.
Nils Jörn