Samuel Pablo Müller, Latins in Roman (Byzantine) Histories. Ambivalent Representations in the Long Twelfth Century (The Medieval Mediterranean 127) Leiden / Boston 2022, Brill, X u. 556 S., ISBN 978-90-04-46092-8, EUR 160. – Die überarbeitete Diss. behandelt das Bild der Lateiner in der byzantinischen historiographischen Literatur. Abschnitt 1 (S. 19–71) präsentiert die entsprechenden Autoren bzw. Quellen, Abschnitt 2 (S. 73–241) die Darstellungen von westlichen Personen im kaiserlichen Dienst (Venezianer, Pisaner, andere italienische Partner, westliche Kaiserinnen, Montferrat, westliche Prinzen, Waräger, „other illustrative cases“) mit einem Kapitel zur angeblichen Xenophobie; Abschnitt 3 (S. 243–449) ist der Darstellung von Beziehungen zu Personen oder Gruppen aus dem Westen im Zuge der politischen Ereignisse des 12. Jh. gewidmet. Eine Zusammenfassung mit Hinweis auf Forschungsdesiderate (S. 450–463), eine umfangreiche Bibliographie (S. 465–531) und ein Index (S. 532–556) beschließen die Arbeit. Der Vf. will eine Lücke füllen, nämlich das Fehlen eines „recent comprehensive study of relations between Byzantium and the West in general or an investigation of Byzantine attitudes toward the West and Westerners in the period of the long twelfth century“ (S. 1), betont aber auch, dass sein Hauptinteresse auf dem historischen Zugang liegt, nicht auf sprachlich-literarischen Aspekten der Geschichtswerke. Im Fokus steht der soziale, politische und kulturelle Kontext der byzantinischen Historiographie. Der Vf. will damit die unreflektierte Annahme eines negativen Bildes der Lateiner in der byzantinischen Geschichtsschreibung kritisch hinterfragen und eine Theorie „wachsender Spannungen“ zwischen Byzanz und dem Westen widerlegen, demgegenüber ein „highly ambivalent, complex, and constantly fluctuating relationship“ (S. 14) aufzeigen. Man ist erstaunt, dass Forschungsergebnisse immer ein Buch und ein „comprehensive survey“ verlangen, Aufsätze oder sonstige Kapitel nicht den gleichen Stellenwert haben. Aufgrund der Quellenlage ist der Standpunkt freilich sehr auf die byzantinische Gesellschaft der Hauptstadt (und in Thessalonike) konzentriert, und hier auf einen sehr engen Kreis; daraus werden soziopolitische Perspektiven herausgefiltert. Dabei stellt sich freilich die Frage, inwieweit diese Aussagen repräsentativ sind und ob z. B. Griechen im asiatischen Raum im direkten Kontakt mit den Kreuzfahrern oder Byzantiner in Süditalien unter normannischer Herrschaft ebensolche Ansichten vertraten. Auch bleibt zu hinterfragen, wieso man eine Integration von „temporary residents“ (Kaufleute und Kreuzfahrer) erwarten sollte, wenn sie anderen Rechtssystemen unterliegen. Gerade weil das Werk neue Aspekte eröffnen will, wäre eine kritische Hinterfragung in manchen Punkten sinnvoll gewesen; um nur ein Beispiel anzuführen: „Based on the number of manuscripts, world chronicles concerned exclusively or mainly with remote times … enjoyed greater popularity than contemporary historiography“ (S. 44). Ein Blick in die Datenbank Pinakes reicht, um diese Aussage für das lange 12. Jh. in Frage zu stellen. So zeigt Pinakes auch bei Zonaras (S. 55f.) das große Interesse mit 72 Hss. erst ab der Palaiologenzeit und dann erwartungsgemäß im Humanismus. Weiters erschöpft sich die Quellenanalyse im ersten Teil in einer Zusammenfassung von Bekanntem. Gerade die theologischen Auseinandersetzungen hätten ergänzend mehr Platz benötigt, um ein nuancierteres Gesamtbild zu erstellen. Die so sehr betonten Aspekte von sozialer Position, Publikum und Absicht zeigen in der Nacherzählung des Vf. in der Forschung bereits thematisierte textpragmatische Aspekte. Die Stellen würden freilich eine detaillierte soziolinguistisch-textpragmatische Interpretation verlangen. Die Aussagen der Historiographen zu den westlichen Bräuten der byzantinischen Kaiser sind gut überschaubar zusammengetragen. Freilich wäre die Frage des Einflusses westlicher Bräute noch weiter zu untersuchen, auch über die Quellenarmut der besagten Historiographen hinaus. Hier wäre ein komparativer Blick und eine erneute Fragestellung aus anderen Herrscherverheiratungen unter den Nationen gewinnbringend, insbesondere auch das Thema der Entourage einer Braut und der Stellung der westlichen Familie zur Kirchenzugehörigkeit. Im Abschnitt „Cultural disinterest“ (S. 221–224) bleibt der Vf. sehr oberflächlich und nur auf Konstantinopel bezogen. Die Literatur ist hier leider auch nicht auf dem letzten Stand. In den „Conclusions“ wird dann noch einmal betont, dass „antiquated scholarship“ das Bild der Lateiner in der byzantinischen Historiographie als xeno- und latinophob darstelle, was nicht so sehr auf den Quellen beruhe als auf anachronistischen Ansichten moderner Historiker und was in diesem Buch korrigiert werden soll. Es stellt sich freilich die Frage, welche seriöse Forschung diese überholten Ansichten heute noch vertritt, wo eine Fülle an Literatur, wie aufgezeigt, ein besseres Verständnis dargelegt hat – aber eben in Aufsätzen oder einzelnen Subkapiteln eines Buchs. Auf der Makroebene hat das Werk sicher einen wichtigen zusammenfassenden Beitrag für das lange 12. Jh. geleistet (letztlich ist jede Aussage aber nur für eine bestimmte soziopolitische oder -religöse Situation eines bestimmten Autors zutreffend), auf der Mikroebene der Interpretation (Soziolinguistik, Textpragmatik und Konnotation) ist noch einiges zu tun. Die Beschränkung auf die byzantinische Historiographie mit Fokus auf der politischen Geschichte repräsentiert allerdings noch lange nicht die byzantinische Gesellschaft; die Kirche und ihre Würdenträger, die Konsequenzen einer Unterordnung unter Rom, die betonte Diversität mit wiederholten Vorwürfen von schismatischen bis häretischen Tendenzen, all dies müsste das Bild für das lange 12. Jh. ergänzen, sonst spiegelt das Gesamtergebnis wiederum nur das einseitige Bild von ein paar literati der gehobenen Klasse wider. Aber genau dies spricht der Vf. auch als Desiderata für die Zukunft an, leider ohne die Primärquellen der Diplomatik zu erwähnen.
Christian Gastgeber
(Rezensiert von: Christian Gastgeber)