Competing narratives of the past in Central and Eastern Europe, c. 1200–c. 1600, ed. by Pavlína Rychterová with the assistance of David Kalhous (Historiography and identity 6 – Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 32) Turnhout 2021, Brepols, XII u. 468 S., ISBN 978-2-503-58545-1, EUR 120. – Der Band beschäftigt sich mit Vergangenheitsnarrativen aus dem mitteleuropäischen Raum des Spät-MA. Die regionale Bandbreite erstreckt sich über das ma. Ungarn, Böhmen, Litauen, Polen, Schlesien, das Gebiet des Deutschen Ordens und Österreich. Der gesamte Raum erfuhr ab ca. 1200, vor allem aber mit Beginn des 14. Jh. wichtige politische Veränderungen. Westliche Herrscherdynastien etablierten sich mit den Anjou in Ungarn und den Luxemburgern in Böhmen. Die Jagiellonen übernahmen den polnischen Königsthron. Ende des 14. Jh. entstand die Union zwischen dem Großfürstentum Litauen und Polen. Der Deutsche Orden etablierte sich ab dem Ende des 13. Jh. im Baltikum. Diese Konstellationen bildeten die Voraussetzung für die Entstehung einerseits bekannter und in der Forschung oft behandelter Chroniken, andererseits aber auch vieler anderer, weniger prominenter Werke, denen jeweils identitätsstiftende Bedeutung für eine kleinere Gemeinschaft oder einen größeren Raum zukommt. Die Frage nach Identitätsbildung und nach den entsprechenden narrativen Strategien durchzieht daher viele der hier zusammengetragenen Beiträge. Der Band möchte weniger bekannte Werke ebenso wie neue Ideen zu prominenten Chroniken in den Vordergrund stellen. Nach einer Einleitung und einem prägnant zusammenfassenden Überblick durch die Hg. R. (S. 1–15) trägt der erste Abschnitt den Titel „A Past that Never Was: Creating New Communities“. Hier geht es um die großen Meistererzählungen über den Ursprung von Völkern und Reichen und um die Konstruktion von Vergangenheit, vor allem der jeweiligen Frühgeschichte. Den Beginn bildet Paweł Żmudzki (S. 19–57), der den Gebrauch des Begriffs Polen im weitesten Sinn und die Verwendung anderer Namen wie beispielsweise dessen der Vandalen neben ihm thematisiert. Die Konzepte von Volk, Reich und Dynastie in der Chronica de gestis Hungarorum ist das Thema von János Bak (S. 59–85). Er verfolgt unter anderem das Motiv der Verknüpfung von Ungarn mit Attila und den Hunnen in den hochma. Chroniken. Mit Magister Vincentius (Wincenty Kadłubek), seinen narrativen Strategien und seinen Vorlagen hinsichtlich der Frühgeschichte beschäftigt sich Jacek Banaszkiewicz (S. 87–109). Die Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften ist das Thema von Matthias Meyer (S. 111–125). Er untersucht unter anderem die Darstellung der Frühgeschichte und die Verwendung von Motiven unterschiedlicher literarischer Genres. Mit der Frage einer hussitischen Identität in der Chronik des Laurentius von Březová/Lorenz von Brösau befasst sich Pavlína Cermanová (S. 127–154). Die moderaten Hussiten sind für Lorenz die Wiederherstellung der idealen Gemeinschaft der frühen Christen. Der zweite Block ist überschrieben mit „The Realm and its People: Rewriting Political Identities“. Der Blick richtet sich hier auf multiple politische Identitäten, Neuinterpretationen der jeweiligen Frühgeschichte und entsprechende Identitätskonstruktionen. Ryszard Grzesik (S. 157–169) beschäftigt sich mit der Ungarisch-Polnischen Chronik und ihrer Perspektive auf die ungarische und polnische Frühgeschichte. Er betont die Intention der Chronik, die ungarisch-slawischen Beziehungen und die Legitimität der ungarischen Herrschaft über Pannonien herauszustellen. Das Konzept der tschechischen Identität in der Chronik des sogenannten Dalimil ist das Thema von Pavlína Rychterová (S. 171–206). Sie präsentiert einige neue Ideen zu dieser schon häufig behandelten Chronik, so beispielsweise zum weitreichenden Konzept der jazyk (Zunge) und ihrer identitätsstiftenden Rolle in Krisenzeiten. Václav Bok (S. 207–223) widmet sich literarischen Reminiszenzen und der Charakterisierung des böhmischen Königs Wenzel II. (1283–1305) und seiner Zeitgenossen in der Steirischen Reimchronik des Ottokar. Fragen der slawonischen und tschechischen Identität in der Böhmischen Chronik des Přibík Pulkava von Radenín stehen im Zentrum bei Václav Žůrek / Pavlína Rychterová (S. 225–256). Hier werden Umgang mit den Vorlagen, Betonung dynastischer Kontinuität und Identitätsmodelle in Böhmen unter Karl IV. analysiert. Die Chronik des Dalimil, diesmal die deutsche Übersetzung, und ihre Identifikationsstrategien sind das Thema von Vlastimir Brom (S. 257–280). Er unterzieht die Strategien, die der Übersetzer einsetzte, um diese Chronik für ein deutschsprachiges Publikum akzeptabel zu machen, einer sorgfältigen Analyse. Rimvydas Petrauskas (S. 281–301) beschäftigt sich mit der Entwicklung der historischen Tradition in den Chroniken des Großfürstentums Litauen im 15. und 16. Jh. Dabei spielte die Konstruktion einer römischen Vergangenheit eine wichtige Rolle. Der dritte Block ist überschrieben mit „Local and Regional Identities in a Dialogue“. Hier werden nicht nur einzelne Werke in den Vordergrund gestellt, sondern vor allem ihr gesellschaftlicher und politischer Kontext untersucht. Przemysław Wiszewski (S. 305–323) widmet sich ethnischen Unterschieden, politischer Identifikation und dem Zusammenhalt sozialer Gruppen im Schlesien des 13. und 14. Jh. Der Fokus liegt dabei auf den Versus de fundatione monasterii Lubensis. Christina Lutter (S. 325–353) untersucht affektive Strategien im Fürstenbuch des Jans Enikel. Ihr besonderes Interesse gilt der Genderproblematik, wie sie in der Zuweisung bestimmter Eigenschaften bei Zusammentreffen von Herrschern und adeligen Frauen zutage tritt. Piotr Węcowski (S. 355–370) beschäftigt sich mit historischem Gedächtnis und lokaler Identität bei Jan Długosz und der Krakauer Kirche. Er stellt die narrativen Strategien heraus, mit denen der Autor die Bedeutung Krakaus hervorzuheben sucht. Marcus Wüst (S. 371–400) analysiert die Chroniken des Deutschen Ordens in Preußen im 14. und 15. Jh. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Werk Peters von Dusburg und seiner sich aus biblischen Motiven speisenden Heroisierung der Ordensritter. Aber auch spätere Chroniken, die die veränderte Rolle des Ordens im 15. Jh. widerspiegeln, kommen zur Sprache. Monastische Narrative in der frühen österreichischen Historiographie und ihre Wahrnehmung bei lokalen Eliten analysiert Martin Haltrich (S. 401–436). Er konzentriert sich dabei auf Werke aus Melk, Göttweig und Klosterneuburg und analysiert ihre gegenseitigen Verflechtungen. Jörg Sonntag (S. 437–451) beschließt den Band mit Beobachtungen zum ethnischen Element in schwäbischen Chroniken des 15. Jh. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf Jakob Twinger von Königshofen (1346–1420), Felix Fabri und dem Oberrheinischen Revolutionär bzw. dem Buchli der hundert capiteln. In allen diesen Werken wird die deutsche Sprache als wichtiges identitätsstiftendes Element herausgestellt und bisweilen eine deutsche Frühgeschichte anhand biblischer und antiker Heroen konstruiert. Am Ende findet sich ein für die Benutzung des Bandes sehr nützliches Register (S. 453–468). Der Band besticht durch die hohe Qualität der Beiträge und eine große Kohärenz, so dass er auch als den aktuellen Forschungsstand reflektierendes Handbuch zum Thema gelesen werden könnte. In fast allen Beiträgen fließt eine vergleichende Perspektive in die Diskussion ein. Zugleich wird verdeutlicht, dass es sich lohnt, ganz dezidiert auf die Regionen Mittel- und Osteuropas zu blicken, ohne dabei die Verflechtungen mit dem Westen Europas außer acht zu lassen.
Daniel Ziemann
(Rezensiert von: Daniel Ziemann)