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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Daniel David Weis, Karl der Große und seine Nachfolger in der deutschen ‘Kaiserchronik’. Kommentar und Untersuchung (Zs. für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiheft 37) Stuttgart 2022, S. Hirzel Verlag, 241 S., ISBN 978-3-7776-2889-9, EUR 60. – Die Studie (zugleich Diss. Marburg 2019) widmet sich der Kaiserchronik, die um die Mitte des 12. Jh. von einem oder mehreren Geistlichen im Umkreis Regensburgs verfasst wurde. Von der großen Popularität der Chronik zeugen 50 überlieferte Hss., die sich drei Redaktionen A (um 1150), B (um 1200) und C (um 1250) zuordnen lassen. Einer umfassenden Erschließung dieser komplexen Überlieferung hat sich zuletzt vor allem das kollaborative Projekt der Universitäten Cambridge und Marburg zugewendet („Kaiserchronik-digital“). In diesem Kontext steht auch die Monographie, deren Ziel es ist, fünf Kaiser-Gesten aus dem Gesamtcorpus der umfangreichen Chronik auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Rezensionen A, B, C zu kommentieren und in einer Untersuchung zu erschließen. Die Auswahl der Episoden – Karl der Große und seine Nachfolger (Ludwig der Fromme, Lothar I., Ludwig der Deutsche und Konrad III.) – wird mit der besonderen Stellung Karls im Gesamtkonzept der Chronik begründet, deren Gegenstand allein das Römische Reich ist. Die Karls-Episode ist mit 800 Versen nicht nur die umfassendste, sondern sie besitzt zugleich eine Scharnierfunktion, wird mit Karl doch die translatio ad Francos begründet. In den anderen vom Vf. ausgewählten Kaiser-Gesten der Nachfolger Karls des Großen lassen sich „exemplarisches Regieren“ sowie „sinnstiftende Bezüge“ (S. 12) nachzeichnen. Ferner begründet der Vf. seine Herangehensweise mit einer Kritik an Massmanns Kommentar (1854), dessen „Wirrwarr“ (S. 15) den Leser nicht an den Text heranführe und insbesondere für die nachkarlischen Kaiser keine sachliche Erschließung biete, sondern sich in „weitschweifigen historischen Erläuterungen“ (S. 16) ergehe; auch die neuere Edition von M. Herweg (2014) kommentiere nur eine Auswahl. Die Monographie setzt mit einer Erläuterung der literaturtheoretischen Positionen des Prologs ein, die allerdings nicht über bereits Bekanntes hinausgeht. Anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit den „buchtechnischen Veränderungen“ (S. 45) der Hss. und ihren Bearbeitungsstufen, die „neue Akzentuierungen des Geschichtsverständnisses“ (S. 12) sowie etwa mögliche höfische Einflüsse erkennen lassen sollen. Der Kommentar (S. 77–114) gliedert sich in einen sachlichen und einen inhaltlichen Abschnitt, er beinhaltet Konzeptkapitel nebst Stellenkommentar (mit Informationen zu einzelnen Wörtern, Begriffen und zu literaturhistorischen Hintergründen); diesem folgt ein Anhang mit Untersuchungen einzelner Motive (S. 115–217). Letztgenannter dient als Erweiterung des schlank gehaltenen Kommentars, in der die unterschiedlichen und gemeinsamen Narrative, Motive (z.B. Bruderschaft, Visionen, Tränengabe etc.), die in der Kaiserchronik, der lateinischen Chronistik, der Heiligen Schrift, der frühmittelhochdeutschen Literatur sowie in der Karlsepik des 13./14. Jh. auftauchen, aufgezeigt, indes weniger erläutert und gedeutet werden. Auf sinnstiftende Bezüge wird allenfalls hingewiesen. Diese Teile der Arbeit werden aneinandergereiht, allein ein roter Faden, der die zum Teil sehr gut recherchierten Informationen und interessanten Beobachtungen zusammenhalten würde, fehlt. Auch fehlt die angekündigte „narrative Analyse“ der Kaisergesten, denn die sich daraus ergebende Frage nach dem Wie des Erzählens wird nirgends aufgegriffen. Da die Arbeit als Kommentar gedacht ist und als solcher in weiten Teilen auch funktioniert, wurde offenbar auch darauf verzichtet, die Ergebnisse abschließend zusammenzufassen. Die Ankündigung von Kommentar und Untersuchung im Titel und die Präsentation der Ergebnisse in Form eines Anhangs bleibt für den Leser bis zuletzt verwirrend, die Struktur weitgehend unklar. Interessantes liefert die Arbeit vor allem an den Stellen, an denen der Vf. die Unterschiede in der Überlieferung und in den verschiedenen Redaktionen herausarbeitet (S. 45–76). Dabei geht es ihm nicht nur um Textvergleiche, sondern er nimmt auch Bezug auf Veränderungen in der Manuskriptkultur. So kann er hier etwa an verschiedenen Beispielen die Bearbeitungstendenzen der Redaktionen (durch Tilgungen, Umstellungen, veränderte Handlungsmotivation sowie durch veränderte Layoutkonzepte) zeigen. An diese profunden Beobachtungen, die die Beweglichkeit der Texte dokumentieren, ließe sich fürderhin anknüpfen.

Gesine Schochow-Mierke

(Rezensiert von: Gesine Schochow-Mierke)