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Andrea Worm, Geschichte und Weltordnung. Graphische Modelle von Zeit und Raum in Universalchroniken vor 1500 (Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 2016) Berlin 2021, Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 560 S., 344 Abb., ISBN 978-3-87157-243-2, EUR 149. – U. a. Anna-Dorothee von den Brincken, Hans-Werner Goetz oder Gert Melville haben in der Vergangenheit wiederholt auf jene Geschichtswerke als historiographische Untergattung aufmerksam gemacht, die entlang graphischer Elemente strukturiert, d. h. bei denen Texte, Bilder und graphische Elemente wie in einem einzigen übergeordneten Diagramm organisiert sind. Vor allem Melvilles umfangreicher Aufsatz Geschichte in graphischer Gestalt, in: VuF 31 (1987) S. 57–154, bot einen ersten umfassenden Überblick über solche diagrammatischen Chroniken (von W. als „Historiogramme“ bezeichnet). Jedoch war bislang keine Gesamtdarstellung des Genres in der Nachfolge Melvilles vorgelegt worden, was aus historischer und philologischer Sicht darin begründet liegen mag, dass die Texte in diesen Chroniken teilweise nicht sehr umfangreich, als Kompilationen meist noch weniger originell und zudem konsequent der diagrammatischen Gesamtstruktur sowie häufig zusätzlich den Illustrationen untergeordnet sind. Mit dieser Ausgangslage dürfte auch die unzulängliche editorische Situation der diagrammatischen Chroniken zu erklären sein. Zumindest das Desiderat einer Monographie hat W. mit der Publikation ihrer Grazer kunstgeschichtlichen Habil.-Schrift nun höchst eindrucksvoll geschlossen. Neben den genannten historisch orientierten Forschungen zu diagrammatischen Geschichtssynopsen bildet den zweiten Ausgangspunkt der Untersuchung das Forschungsinteresse an Diagrammen, Text-Bild-Beziehungen, Wissensorganisation und -systematisierung sowie Memorialpraktiken, das allgemein zuletzt derart gewachsen ist, dass sogar der Begriff diagrammatic turn ins Spiel gebracht wurde (vgl. den einleitenden Forschungsüberblick, S. 11–19). Archeget und zugleich wichtigster Vertreter der diagrammatischen Chroniken im Hss.-Zeitalter ist das vor 1205 in unmittelbarer Nähe zur Historia Scholastica des Petrus Comestor entstandene Compendium historiae des Petrus von Poitiers, das biblische Geschichte und Personen von Adam bis Christus in einer graphischen Synopse abbildet. Dieses Modell wurde „als visuelle Manifestation historischer Zusammenhänge in Gestalt eines sinnstiftenden genealogischen Gerüsts, dessen lineare Folgerichtigkeit die teleologische Natur der Heilsgeschichte evident werden lässt, … für die Vorstellung von Zeit und Geschichte im gesamten lateinischen Westen prägend“ (S. 43). Es ist bis heute in über 200 Hss. – Codices ebenso wie mehrere Meter lange rotuli – überliefert. Neben Vorläufern (v. a. Hugo von St. Viktor) sowie Aufbau und Struktur des Compendium historiae stehen die regelmäßig mitüberlieferten Diagramme (Arche Noah, 42 Lagerstätten des Volkes Israel während des Exodus, zwölf Stämme Israels, Tore Jerusalems) sowie bis in die jeweilige Gegenwart des Autors reichende Fortsetzungen (v. a. aus England) im Zentrum von W.s Interesse (S. 21–125). (Die Überschrift des Kapitels II.3.1.1. „Die Linie der Könige Englands, ‘qui principi christiani fuerunt’“ [S. 96] ist in „primi christiani“ zu ändern! [vgl. Abb. II.53 auf S. 100]) Deutlich am Modell des Compendium historiae orientierte, aber doch eigenständige Adaptionen entstanden mit der Chronologia magna des Paolino Veneto, der anonymen, aus England stammenden Scala mundi sowie der Compilatio nova des Giovanni da Udine bis in die Mitte des 14. Jh. hinein, wobei allen gemeinsam ist, dass sie verhältnismäßig wenig Verbreitung erfuhren (S. 127–179). Die drei übrigen Kapitel, die dem Fasciculus temporum Werner Rolevincks (S. 181–261), dem anonym bei Lucas Brandis in Lübeck verlegten Rudimentum novitiorum (S. 262–369) sowie der bei Anton Koberger in Nürnberg gedruckten, nach dem Kompilator Hartmann Schedel benannten Weltchronik (S. 370–481) gewidmet sind, befassen sich dann mit der Entwicklung der diagrammatischen Chroniken unter den Bedingungen des Buchdrucks. Wie die Drucklegungen der drei behandelten Werke nahelegen, die in nur knapp zwei Jahrzehnten zwischen 1474 und 1493 erfolgten, erfuhr das im 12. Jh. von Petrus von Poitiers an der biblischen Geschichte geprägte Genus der diagrammatischen Chroniken mit der Erfindung des Buchdrucks eine Renaissance und wurde ebenso breit verlegt wie rezipiert. „Sie haben aufgrund ihrer enormen Dissemination das allgemeine Bild und Verständnis von Zeit und Geschichte in der vormodernen Zeit sicherlich stärker geprägt als jedes andere Genre mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Historiographie“ (S. 14). W.s Buch besticht durch seine herausragende Bebilderung, die die Faszination der diagrammatischen Chroniken in bislang nicht gesehener Art zugänglich macht. Es dürfte – zumal in alle behandelten Werke gründlich eingeführt wird, bevor eigene Forschungsschwerpunkte gesetzt werden – auf absehbare Zeit die maßgebliche Gesamtdarstellung dieser eigentümlichen Untergattung der Historiographie sein.

B. P.

(Rezensiert von: Bernd Posselt)