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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Brigide Schwarz, Alle Wege führen über Rom. Beziehungsgeflecht und Karrieren von Klerikern aus Hannover im Spätmittelalter (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 302) Göttingen 2021, Wallstein Verlag, 572 S., Abb., Pläne, Karten, genealogische Tafeln, ISBN 978-3-8353-3455-7, EUR 49. – „Mit der Quelle, aus der hier geschöpft wird, kann sich für diese Zeit keine andere in der Welt messen, sie übertrifft an Umfang und Mannigfaltigkeit schlechterdings alles, was aus dem ausgehenden Mittelalter überhaupt bekannt ist.“ Mit diesen Worten leitete im Jahr 1903 der Papsthistoriker Johannes Haller sein Gutachten „Über das Repertorium Germanicum“ ein, in welchem er hellsichtig die Erkenntnispotentiale der vatikanischen Registerüberlieferung für die Kirchen-, Kultur- und allgemeine Geschichte des späten MA umriss. Auf seine visionären Vorschläge geht die Anlage jener Edition zurück, die die kurialen Quellen der Zeit nach 1378 (gegenwärtig bis 1484) erschließt. Freilich stellt das juristisch-spröde Material, zumal in der ausgesprochen knappen, kryptischen Form der Repertorium-Germanicum-Regesten, eine ganz eigene Herausforderung für Forscher dar. Jene faszinierenden Zeugnisse spätma. Lebenswelt ganz im Sinne Hallers richtig zu lesen – dies hat uns eigentlich erst die 2019 verstorbene Sch. gelehrt. Der posthum erschienene, aber noch von Sch. akribisch redigierte Sammelband umfasst insgesamt zehn zwischen 1996 und 2001 an verschiedenen Orten publizierte Aufsätze, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder mit derselben „Seilschaft“ von spätma. Klerikern aus Hannover (wo Sch. bis 1998 Professorin war) und deren Karrieren an der Kurie bzw. den Kirchen des norddeutsch-hanseatischen Raums beschäftigt hat. Deren prominenteste Vertreter sind die zwei livländischen Bischöfe Dietrich Reseler († 1441) und Ludolf Grove († 1458) sowie der Bischof von Lübeck und Fast-Kardinal Basler Oboedienz Johannes Schele († 1439), ferner verschiedene Pröpste norddeutscher Dom- und Stiftskirchen, unter denen Berthold Rike († 1436), der „Freund italienischer Kaufleute im Norden“, die wohl faszinierendste Gestalt ist. Sch. zeigt in diesen Aufsätzen, welche sich inhaltlich teilweise überschneiden, insgesamt aber sehr glücklich ergänzen (für einen ersten Überblick lohnt insbesondere der resümierende letzte Aufsatz, Nr. X), wie unter den außergewöhnlich günstigen Rahmenbedingungen der Schisma- und Konzilszeit Bürgersöhne aus dem damals noch recht unscheinbaren Hannover Karriere in der Kirche machen konnten und welche Rolle dabei Einflussfaktoren wie akademische Bildung, Tätigkeit an der römischen Kurie, Fürstendienst und juristisch-diplomatisches Engagement an den Brennpunkten der Politik (Deutschordenspolitik in Livland, Braunschweiger Schulstreit, Lüneburger Prälatenkrieg etc.) spielten. Den eigentlich zentralen Aspekt stellt jedoch die Verflechtung der Akteure dar, die familiär, freundschaftlich-klientelar und landsmannschaftlich miteinander verbunden waren und sich gegenseitig förderten. Solche „Seilschaften“ sind bis heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen (nicht zuletzt im akademischen Milieu, ob wir uns das nun eingestehen oder nicht) anzutreffen – selten aber kann man eine so detaillierte und inhaltlich ergiebige Rekonstruktion dieser (600 Jahre zurückliegenden!) Verflechtungsverhältnisse lesen wie bei Sch. Ihre „dichte Erzählung“ liest sich nicht immer einfach, ist aber durchweg überzeugend und vermittelt viele interessante, auch grundsätzliche Einsichten – etwa über die Rolle des Papsttums bei der Akademisierung und (teilweisen) Verbürgerlichung der Kirche im 15. Jh. oder beim Vordringen italienischer Bankhäuser in den hanseatischen Raum, wo man diesen innovativen Institutionen eher ablehnend gegenüberstand (S. 484 und 489, dazu insbesondere Aufsatz VIII). Vor allem aber sind Sch.s Aufsätze methodisch wegweisend gewesen, leitete sie doch in ihnen – zusammen mit anderen Autoren wie Wolfgang Reinhard oder Gerhard Fouquet – einen „network turn“ in der Geschichtswissenschaft und insbesondere der Sozialgeschichte ein, welcher gegenwärtig im Zeitalter der Digitalisierung einen immensen Aufschwung erfährt. Die Vorreiterrolle auf diesem Gebiet bleibt Sch. unbestritten, und es ist ihr sehr zu danken, dass sie mit der Abfassung dieses Sammelbandes ihre bahnbrechenden Forschungen noch einmal in aktualisierter Form und für einen bequemen Zugriff, gewissermaßen als ein wissenschaftliches Vermächtnis, zusammengestellt hat.

Robert Gramsch-Stehfest

(Rezensiert von: Robert Gramsch-Stehfest)