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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Die Rechtsquellen des Kantons Zürich N. F. Erster Teil: Die Stadtrechte von Zürich und Winterthur, Zweite Reihe: Die Rechtsquellen der Stadt Winterthur, Erster Bd.: Die Rechtsquellen der Stadt Winterthur I (Anfänge bis 16. Jahrhundert), bearb. von Bettina Fürderer (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung) Basel 2022, Schwabe Verlag, LXVI u. 651 S., ISBN 978-3-7965-4408-8, CHF 190. – Die hier präsentierte Auswahl der Rechtsquellen der um 1200 von den Grafen von Kyburg planmäßig angelegten Stadt Winterthur umfasst vom ältesten Dokument von 1180 bis zum jüngsten um 1550 370 Jahre Stadtgeschichte, und zwar in einer thematischen Breite, die den engeren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Rahmen sprengt und Einblicke in die administrative, soziale, ökonomische, religiöse und kulturelle Entwicklung der Kommune bietet. Die Bearb. gibt in ihrer Einleitung einen instruktiven und alle verschiedenen Gattungen der Schriftlichkeit streifenden Überblick über die vorgelegten Quellen, geschickt eingebettet in einen historischen Abriss, der sich – gestützt auf die gerade in jüngster Zeit angewachsene, reiche Sekundärliteratur – kurz fassen kann und die Rahmenbedingungen städtischen Handelns im genannten Zeitraum absteckt. Das Kapitel „Quellenauswahl und Überlieferung“ orientiert über die Provenienz der abgedruckten Dokumente, über Konstanten und Zufälligkeiten in der Überlieferungslage und über bisherige Editionen anderen Zuschnitts. Ein spezielles Kapitel über die Kanzlei der Stadt Winterthur widmet sich ausführlich den ab dem 15. Jh. gut belegbaren Stadtschreibern, ihrer Tätigkeit und ihren Schreibgewohnheiten. Von den edierten 300 Stücken stammen rund drei Viertel aus vorreformatorischer Zeit. Die gebotene Auswahl richtet sich sowohl nach der rechts- und stadtgeschichtlichen Repräsentanz der Quellen wie nach ihrer Vielseitigkeit in Bezug auf weiter gefasste Fragestellungen. – Die älteste Urkunde im Stadtarchiv von Winterthur, ein von Bischof Berthold von Konstanz vermittelter Vergleich zwischen dem Leutpriester von Oberwinterthur und Graf Hartmann III. von Kyburg vom 22. August 1180 (Nr. 1), besiegelt die rechtliche Ablösung der von den Kyburger Grafen bereits seit längerem als Grablege benutzten Kirche von (Nieder-)Winterthur von der älteren, innerhalb der spätrömischen Kastellmauern erbauten Mutterkirche von Oberwinterthur und vermittelt bereits das Bild einer expandierenden Siedlung von Kaufleuten und gräflichen Ministerialen. Am 22. Juni 1264 verbrieft Graf Rudolf von Habsburg die Rechtsstellung der Bürger von Winterthur und ihres Schultheißen, darunter auch das Marktrecht, und definiert erstmals den über die Stadtmauern hinausreichenden städtischen Rechtsbezirk (Nr. 5). Als Folge der Übergriffe der Appenzeller auf benachbarte Burgen im Thurgau schließen Schultheiß und Rat der Stadt Winterthur 1407 einen Burgrechtsvertrag mit der Stadt Zürich (Nr. 40), weil sie sich von ihren Stadtherren, den Herzögen von Österreich, zu wenig geschützt fühlen. Diese zwingen zwar ein Jahr später die Winterthurer, den Vertrag mit Zürich wieder aufzulösen, und sichern sich ihre Rechte als Stadtherren. Aber nach der Eroberung des Thurgaus durch die Eidgenossen um 1460 gerät Winterthur erneut in den Einflussbereich der expandierenden Zürcher Herrschaft. Herzog Sigismund von Österreich verpfändet 1467 seine Stadt Winterthur um 10.000 Gulden der Stadt Zürich (Nr. 90). Von da an bestimmt weitgehend Zürich die äußeren Beziehungen der Stadt und limitiert das Streben der Winterthurer nach einem höheren Rechtsstatus. „Die inneren Verhältnisse konnten Schultheiss und Rat von Winterthur hingegen weitgehend autonom regeln“, stellt die Einleitung fest (S. XXVIII), und tatsächlich dokumentieren die von den Winterthurer Behörden ausgehenden Verordnungen, Verträge, Berufsordnungen, Bruderschaftsstatuten, Eidformulare, Urfehde-Eide, Verbote und Gebote diese Autonomie in exemplarischer Weise. Diese Art der Schriftlichkeit bildet den Großteil der präsentierten Rechtsquellen. Sie zeichnen ein facettenreiches Bild des Lebens und der Gebräuche in der Stadt. Ratsbeschlüsse wie derjenige vom 12. August 1417 zur Reduktion der Gäste und Patengeschenke bei Taufen und mit dem Verbot, bei solchen kirchlichen Anlässen schon vor der Mittagszeit zur Schenke zu gehen (Nr. 50), und generell die Beschränkung und Reglementierung des Geschenkaustauschs an Weihnachten und bei Neujahrsfeiern (Nr. 63, 1433) oder Hochzeiten und Tauffeiern (Nr. 204, 1506) belegen, dass die Sittenkontrolle nicht erst eine Erfindung puritanischer Reformatoren war. Eindeutig vorreformatorische Verhältnisse spiegelt hingegen der Eid eines Bordellbesitzers von 1481, dem die Stadt das gemein frowen huß verliehen hat, obwohl auch da die Reglementierung und Eindämmung der Prostitution im Vordergrund steht (Nr. 116). Ein Streiflicht auf die Übernutzung der Wälder im Spät-MA und Maßnahmen zu ihrem Schutz bietet die Nutzungsordnung für den Eschenberg, damals und bis heute das größte zusammenhängende Waldgebiet der Stadtgemeinde, von ca. 1468 (Nr. 94). In einem Brief vom 17. März 1481 bitten die Stadtbehörden die Stadt Schaffhausen um eine Art „Rechtshilfe“ bei der Wiederauffindung wertvoller Kultgegenstände aus dem mit Winterthur verbürgerten Kloster Beerenberg: Die Wertgegenstände, vermutlich auch Reliquien, hat ein Kleriker (ein pfaff) bei einem Besuch des Klosters entwendet, und man vermutet, sie könnten in Schaffhausen bei Goldschmieden oder Juden versetzt worden sein (Nr. 113). Eher eine Zufallsüberlieferung dürfte das Testament eines Witwers vom 20. Februar 1514 sein (Nr. 213). Umso wertvoller sind die in dieser Erbverteilung gemachten Angaben zu den flüssigen Mitteln, der beweglichen und unbeweglichen Habe des Erblassers und zu den Motiven und Bedingungen seiner Schenkung an die Pfarrkirche und das Sondersiechenhaus von Winterthur. Zwar wird das Vermächtnis noch zum Seelenheil des Ausstellers und seiner verstorbenen Familienangehörigen getätigt, aber Vorschriften für das Totengedenken fehlen gänzlich, während für die Verwendung des halben Vermögens zur Verbesserung der Krankenpflege detaillierte Vorgaben gemacht werden. – Es gelang Winterthur nie, ein größeres Territorium außerhalb seiner Stadtgrenzen zu erwerben, mit einer Ausnahme: In der ersten Hälfte des 15. Jh. konnte sich die Stadt Gerichtsrechte im Dorf Hettlingen sichern. Während sie die Niedergerichtsrechte unbestritten ausübte, beanspruchte Zürich später vorübergehend das Hochgericht von Hettlingen, musste dieses aber 1536 endgültig den Winterthurern überlassen (Nr. 274). Demzufolge sind auch einige wichtige Urkunden ediert, welche die ländlichen Verhältnisse Hettlingens betreffen, so das Weiderecht (Nr. 114, 1481), das Tavernenrecht (Nr. 224, 1521) und schließlich die Gesamtheit des bäuerlichen Wirtschaftens und Zusammenlebens in der 1542 ergänzten Offnung von 1538 (Nr. 280). – Den einzelnen Stücken sind ausführliche Regesten vorangestellt. Die Kommentare vermitteln weiterführende Erläuterungen und Hinweise auf die Sekundärliteratur. Bei der Textgestaltung überzeugt vor allem die moderne Zeichensetzung und macht aus Transkriptionen gut lesbare und verständliche, eben „edierte“ Texte. Alle Quellenstücke sind auch online publiziert (https://editio.ssrq-online.ch/ZH/NF_I_2_1/); die gedruckte Fassung dient gemäß Vorwort (S. XXI) als „Referenzpublikation“. In der online-Version werden die meisten Dokumente auch in gut einsehbaren Faksimiles gezeigt. Hier kann sich jeder Benutzer vom umsichtigen und genauen Umgang der Bearb. mit den Originalen überzeugen – oder aber das sprichwörtliche Haar in der Suppe suchen. Wenn es eines gäbe, das die Erwähnung lohnen könnte, so würde ich den Umgang mit der Ligatur tz in deutschen Hss. des 15. Jh. nennen. Diese Ligaturen sehen in den Originalen tatsächlich oft aus wie cz, weil das t in der Mittellänge ohne verlängerten Aufstrich direkt ins z hinübergezogen wird. Hier den paläographischen Befund über den lautsprachlichen zu setzen und cz zu transkribieren, halte ich für verfehlt, auch weil dies zu willkürlichen Entscheidungen zwingt. So wird das gleichlautende und im Faksimile bei der tz-Ligatur nicht zu unterscheidende Wort yetzgenanten (S. 164 Z. 33) drei Zeilen zuvor als yeczgenanten (ebd. Z. 30) wiedergegeben, was wohl kaum der Intention des ma. Schreibers entspricht. – Ein Register der Personen, Familien und Organisationen sowie ein Ortsregister erschließen den Band zuverlässig, während die meisten schwer verständlichen oder außergewöhnlichen Begriffe im Apparat sachkundig glossiert sind.

Hannes Steiner