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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Chartularium Sangallense, Bd. 1 (700–840), bearb. von Peter Erhart unter Mitwirkung von Karl Heidecker / Bernhard Zeller, St. Gallen 2013, Hg.- u. Verl.-Gemeinschaft Chartularium Sangallense, XXXVI u. 375 S., ISBN 978-3-905275-11-7 (Hg.- u. Verl.-Gemeinschaft Chartularium Sangallense) bzw. 978-3-7995-6067-2 (Thorbecke), EUR 25. – Chartularium Sangallense, Bd. 2 (841–999), bearb. von Peter Erhart unter Mitwirkung von Karl Heidecker / Rafael Wagner / Bernhard Zeller, St. Gallen 2021, XXXII u. 597 S., 1 beigelegter Faltplan, ISBN 978-3-9523018-5-2 (Stiftsarchiv St. Gallen) bzw. 978-3-7995-6070-2 (Thorbecke), EUR 120. – Als der wohl produktivste Herausgeber von Urkundenbüchern der Schweiz, Otto P. Clavadetscher, im Jahr 1983 mit Band 3 (1000–1265) die Reihe des inzwischen abgeschlossenen Chartularium Sangallense (ChS) eröffnete (vgl. DA 41, 581f.), hatte er die Arbeit an den Bänden 1 und 2 bewusst späteren Generationen von Editoren aufgespart. Eine Neuedition des Urkundenbuchs der Abtei Sanct Gallen (UB SG) von Hermann Wartmann aus den Jahren 1863 und 1866 hielt er zwar für wünschenswert, aber nicht dringlich. Der „Wartmann“, wie man die beiden bis 920 reichenden Bände nannte, galt als außerordentlich zuverlässig. Aber spätestens 1986 wiesen die Untersuchungen Michael Borgoltes zu den Ausstellungsdaten, Actum- und Güterorten der älteren St. Galler Urkunden auf neue Erkenntnisse hin, die Wartmanns Berechnungen und Identifikationen ergänzten, korrigierten oder aber in Zweifel zogen. Dass es bis zum Erscheinen von ChS 1 dann doch über drei Jahrzehnte dauerte, hängt auch mit den 2003 begonnenen Arbeiten an den St. Galler Urkunden des 9. Jh. im Rahmen der Chartae Latinae Antiquiores (ChLA) zusammen. Dieses Editionsunternehmen mit seinen erweiterten Regesten, Volltexteditionen und Faksimiles in Originalgröße bietet dem Benutzer nicht nur paläographische und kodikologische Informationen, sondern in den Angaben zu den Schreibern, den Personen und Orten der Handlung sowie in einer reichen Bibliographie so etwas wie die Quintessenz der modernen Auseinandersetzung mit den St. Galler Traditionsurkunden. Das hat den Vorteil, dass die Bearbeiter der ChS-Bände 1 und 2 – es sind dieselben, die für die ChLA des 9. Jh. verantwortlich zeichnen – den Apparat ihrer beiden Urkundenbücher mit Verweis auf das Vorläuferwerk schlank halten konnten. Die beiden Bände, die sich auch in der Zäsur von 840 für die Aufteilung in zwei Volumina am alten „Wartmann“ orientieren, sind insgesamt nicht viel umfangreicher geworden als die Vorläuferedition aus dem 19. Jh. – Der Editionsplan (Bd. 1 S. XIII–XV, fast gleichlautend Bd. 2 S. IX–XI) lehnt sich mit einigen Modifizierungen an den von Clavadetscher entworfenen an, wobei der gewichtigste Unterschied jener ist, dass in den Bänden 1 und 2 des ChS nur Urkunden aufgenommen sind, die aus der Überlieferung des Klosters stammen, während die Bände 3–13 alle Urkunden mit sanktgallischen Ausstellern, Empfängern oder Rechtsobjekten im Volltext abdruckten. Dass mit diesen erweiterten Aufnahmekriterien alle Urkunden der Epoche 1000–1265 (ChS 3) etwa gleich viele Seiten füllen wie die ausschließlich stiftsanktgallischen Urkunden der Epoche 840–920, dokumentiert eindrücklich sowohl die Einzigartigkeit und gesamteuropäische Bedeutung der im Stiftsarchiv St. Gallen gesammelten Dokumente aus dem Früh-MA wie die Blüte der Schriftlichkeit in der karolingischen Epoche. Ab 920 bricht die Urkundenüberlieferung, vor allem jene der Privaturkunden, aus unterschiedlichen Gründen ein: Bd. 2 des ChS zählt zwischen 921 und dem Ende des 10. Jh. nur gerade 30 Stücke; die letzte Privaturkunde, ein Gütertausch, stammt von 981. – Den Urkundentexten vorangestellt ist jeweils ein Kommentar der Bearb. H. / Z. zu den Datierungen sowie die (damit in Bezug stehenden) Regierungsjahre der deutschen Könige und Kaiser und der Äbte des Klosters St. Gallen. In diesem Kommentar werden die Beweggründe erläutert, die dazu geführt haben, dass viele der einst von Wartmann postulierten Datierungen infolge einer plausibleren alternativen Auflösung der gegebenen Datierungselemente oder aufgrund von personengeschichtlichen Überlegungen neu festgesetzt werden. Die Bearb. können sich dabei auf ausgedehnte Vorarbeiten von Michael Borgolte von 1985 stützen, dessen Emendationen der Datierungen Wartmanns in vielen Fällen übernommen werden, während spätere Vorschläge von 1998 (Heinrich Wagner) und 2003 (Rupert Schaab) zu Neudatierungen aufgrund einer gewissen Willkür in der Emendation der Datumsangaben bzw. infolge „einer etwas überspitzten Auffassung von Amtszuständigkeiten der ... klösterlichen (Aussen-)Pröpste“ meist zugunsten der Resultate von Wartmann und/oder Borgolte unberücksichtigt bleiben (Bd. 1 S. XVIIIf.; Bd. 2 S. XVIf.). Grundlage bei den Datierungsentscheidungen bleiben die Edition der ChLA und die dortigen Erörterungen, was es erlaubt, die Kommentare zu den Datierungen im Editionstext gegenüber den teilweise umfangreichen Exkursen Wartmanns zu straffen. Bei allen Abwägungen der reichlich komplexen Datierungsthematik gewinnt man den Eindruck, die Bearb. hätten eine ausgesprochen ausgewogene Berücksichtigung möglichst vieler Teilaspekte angestrebt und seien im Zweifelsfall eher den Angaben der frühma. Schreiber gefolgt, als der Versuchung nachzugeben, durch Emendationen Widersprüche zu glätten. – Die Texte weichen in graphematischen Details von Wartmanns Methodik ab, zumal in der Wiedergabe des germanischen Lauts „w“ bei den Personen- und Ortsnamen, wo dem Befund der Originale (uu bzw. vu oder vv) gefolgt wird, während das Register die Belege unter W auflistet. Im Unterschied zu Wartmanns Edition wird das Zeilenende mit einem senkrechten Strich markiert, sofern man sich auf Originale und nicht nur auf Drucke stützen kann. Abweichungen vom Text Wartmanns, dessen für seine Zeit singuläre Qualität durch die akribische Neuedition im Übrigen nochmals bestätigt wird, betreffen einzelne unsichere und ausnahmsweise auch irrige Lesarten, können sich aber auch dort ergeben, wo die Originale verlorengegangen sind und unterschiedliche spätere Textzeugen berücksichtigt werden müssen. Dies ist gleich beim ersten Stück der Fall, bei der undatierten, um 700 anzusetzenden Schenkung von Biberburg am Neckar an die Galluskirche durch Herzog Gottfried von Alemannien: Hier hatte sich Wartmann auf einen Klosterdruck von 1645 gestützt, während die Neuedition einer besseren Abschrift Vadians von vor 1530 folgt (Bd. 1 S. 1). Neu ist auch die Berücksichtigung der Rückvermerke, für die der Benutzer nun nicht mehr die ältere Edition der Dorsualnotizen zur Hand nehmen muss. – Am Ende jedes der beiden Bände orientiert eine Konkordanztabelle vor allem über die Verschiebungen, die sich bei den Datierungen im Vergleich zwischen UB SG und ChS ergeben. Die Register befinden sich am Ende des 2. Bandes und beziehen sich sinnvollerweise wie einst bei Wartmann auf beide Bände. Das Personennamenregister (S. 447–535) stützt sich auf neu gewonnene prosopographische und historische Erkenntnisse, während das Ortsnamenregister (S. 537–576) für manche zu Wartmanns Zeiten noch offene Lokalisierung eine inzwischen gefestigte Identifikation mit einem modernen Ortsnamen anbieten kann, ohne bei den nach wie vor nicht identifizierbaren Namen Spekulationen Raum zu geben. Wie schon UB SG 2 wird auch ChS 2 durch ein Wort- und Sachregister (S. 577–597) abgeschlossen, das in erster Linie die auf die Rechtsakte und die Schenkungs- und Tauschobjekte bezogene Terminologie erfasst, aber auch Verwandtschaftsverhältnisse, Abgaben und Maßangaben sowie kirchliche und wirtschaftliche Sprachregelungen einbezieht. Eine Bd. 2 beigelegte Faltkarte lokalisiert die Güter- und Ausstellungsorte, die lediglich miterwähnten Orte sowie die klösterlichen Grundherrschaftsbezirke, die sogenannten Kapitel, mit ihren auf den Dorsualnotizen notierten römischen Ziffern. – Stiftsarchivar E. und seinen Mitarbeitern gebührt Anerkennung und Dank für die umsichtigen und breit angelegten Vorarbeiten zu dieser Neuedition wie für deren sorgfältige Drucklegung. Eines der wichtigsten Quellenwerke für die Geschichte des Früh-MA liegt nun in einer Form vor, die der einstigen Pionierleistung H. Wartmanns in nichts nachsteht und die seither erfolgten Forschungsergebnisse in kluger Abwägung und Auswahl aufnimmt. Sie dürfte auch für künftige Generationen Gültigkeit beanspruchen. Das Warten hat sich gelohnt! (siehe auch unten S. ###.)

Hannes Steiner

(Rezensiert von: Hannes Steiner)