Heinz-Dieter Heimann, Schinkels Brunnen und das Königsgrab an der Saar. Eine Gedächtnisgeschichte und politische Affäre Preußens (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 56) Berlin 2022, Duncker & Humblot, 187 S., Abb., ISBN 978-3-428-18385-2, EUR 39,90. – Aufbauend auf den Untersuchungen von Reinhard Schneider, Paul Spang und Stefan Schmitz zu den Grablegen Johanns von Luxemburg (1296–1346) legt der Vf. dar, wie die Gebeine jenes in Europa vielbewunderten Lanzenhelden und Königs von Böhmen nach seinem Schlachtentod bei Crécy (1346) keine dauerhafte Ruhe fanden. Schon sein Sohn Karl, der spätere Kaiser, setzte sich über den testamentarisch bestimmten Bestattungsort im Kloster Clairefontaine bei Arlon hinweg und ließ Johann im Münster von Luxemburg bestatten. Kriegswirren zwangen immer wieder zu Rettungsaktionen für die Gebeine, u.a. dem Verstecken der Knochen vor der französischen Eroberung Luxemburgs 1795 bei der weitverzweigten Luxemburger Bürgerfamilie Boch. Im Jahr 1833 besuchte der preußische Kronprinz, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., bei der Reise durch die neuerworbenen Westgebiete Preußens den Fabrikanten und Spross der Familie Jean-François Boch-Buschmann. Der preußisch gesinnte Unternehmer, der später sogar Abgeordneter im Paulskirchenparlament werden sollte, übergab dem Prinzen Johanns sterbliche Überreste. Friedrich Wilhelm ließ bald darauf die Gebeine in eine von Karl Friedrich Schinkel gestaltete und 1838 vollendete kleine Kapelle bei Kastel über der Saar umbetten, wo sie bis zum Rücktransport nach Luxemburg im Rahmen einer französisch-luxemburgischen Militäraktion von 1946 verblieben. Der Vf. rekonstruiert auf Grundlage von vielfältigen Archiv- und Quellenforschungen, darunter auch Dokumenten aus dem Firmenarchiv von Villeroy & Boch oder einer Rechtfertigungsschrift Boch-Buschmanns, detailliert die Zusammenhänge, in denen die jeweiligen politischen Akteure den Gebeinen Johanns unterschiedliche spezifische Bedeutungen zuschrieben. Es ist überaus spannend zu verfolgen, welche Rolle sie innerhalb der großen politischen Interessenlagen spielten, wie etwa, dass bei der Aneignung der neuen preußischen Rheinprovinz auch die Fürsorge für Baudenkmäler oder die Aufwertung von Orten durch Memorialzeichen im Geiste eines neuangeeigneten MA in Dienst genommen wurden. Die Vollendung des Kölner Doms, die Wiedererrichtung des Königsstuhls in Rhens, der Neubau der Burg Stolzenfels bei Koblenz und eben die Herrichtung einer neuen Grablege für König Johann in Kastel: Das alles sind Belege von Vorstellungen eines idealisierten Rittertums und zugleich eines dynastisch-monarchischen Selbstverständnisses Friedrich Wilhelms IV. Der Vf. zeigt überzeugend, wie im Gedankenfeld einer von der Romantik geprägten neuen MA-Begeisterung Johanns Gebeine der genealogischen Legitimität dienten, wie sie Kristallisationspunkt von gemeinschaftstiftenden Erinnerungen geworden sind und zu einem „historischen Argument zum Wiedergewinn einer ständisch geprägten politischen Ordnung“ (S. 55) hätten werden sollen. Aber nicht nur der preußische Monarch verfolgte mit den Knochen große Ziele, auch der Fabrikant hoffte mit der Übergabe seinem eigenen Geschichtsverständnis gerecht zu werden und nebenbei auch die Auftragslage seiner Firma durch Hofnähe zu erhöhen. Die Gegengabe des preußischen Königs an Boch-Buschmann in Form eines von Schinkel entworfenen eisernen Brunnens mit der Figur eines geharnischten Ritters für den Firmensitz in Mettlach unterstreicht die königliche Wertschätzung der Gebeine. Brillant ist das Buch immer dort, wo die genauen Lebensumstände und Interessen der jeweiligen Akteure bis zur letzten Jahrtausendwende aus deren MA-Vorstellungen heraus beschrieben werden. Ob allerdings der von Reinhart Koselleck später selbst überaus kritisch betrachtete Begriff der „Sattelzeit“, die der Vf. mit einem „neuen Zeitalter des Rittertums“ im Geschichtsdenken und in der Literatur in Verbindung bringt (S. 45–55), die Phänomene näher zu erklären vermag, sei dahingestellt. Johann jedenfalls, und das gelingt dem Vf. überzeugend zu beschreiben, wurde zu einem luxemburgischen Erinnerungsort und Mythos – hier endlich einmal in seiner ureigenen Begriffsbedeutung als gemeinschaftstiftende Ursprungserzählung. Zwar als ein Kind der Romantik geboren, stellt der Begräbnisort von Kastel einen Beleg für die diachrone politische Bedeutung von Grablegen und der darin tatsächlich verwahrten Materie dar, sonst hätten die Gebeine 1946 nicht abtransportiert werden müssen. Der Streit um die Knochen konnte so zu einem „Echoraum der großen Konflikte in der europäischen Geschichte“ (S. 133) werden. Das alles zeigt: Erinnerungsgeschichte ist nicht nur als ein Anhängsel bei der Darstellung historischer Prozesse zu verstehen, sondern sie bildet einen substantiellen und integralen Bestandteil historischen Wissens selbst. Eine formale Kritik noch am Rande: Eine Reihe von sachlichen Fehlern und gestalterischen Unzulänglichkeiten mögen noch hingehen, das Fehlen von Personen- und Ortsregistern macht sich allerdings für die Erschließung des Textes überaus schmerzhaft bemerkbar und kann auch durch ein eher dürres Sachregister – mit so allgemeinen und damit wenig erklärenden Lemmata wie etwa „Europa“, „Frankreich“ oder „Geschichte des Mittelalters“ – nicht ersetzt werden.
Olaf B. Rader
(Rezensiert von: Olaf B. Rader)