Eroberte im Mittelalter. Umbruchssituationen erleben, bewältigen, gestalten, hg. von Rike Szill / Andreas Bihrer (Europa im Mittelalter 39) Berlin u.a. 2023, De Gruyter, IX u. 509 S., Abb., ISBN 978-3-11-073982-4, EUR 99,95. – In der deutschen MA-Forschung rückte das Thema Eroberung noch vor Beginn der jüngsten kriegerischen Entwicklungen im Osten Europas verstärkt in den Fokus von Tagungen. Die Tagungsbände dazu liegen nun in gedruckter Form vor und erhalten somit in gewisser Weise eine aktuelle Note. Den Beginn machte Bd. 93 der VuF (siehe oben S. 468f.). Während die Beiträge dort im Regelfall jedoch die Sicht der Eroberer darlegen, ging man im hier vorliegenden Sammelband den genau anderen Weg und versuchte die Perspektive der Eroberten und ihren Umgang mit solchen Umbruchssituationen zu beleuchten. Die Grundlage für die Publikation bildeten die Vorträge der Tagung „Ein(ver)nehmen? ‘Eroberte’ als Diskursteilnehmer zwischen Selbstinszenierung und Sinnstiftung in der Vormoderne“, die im Jahr 2020 durch das Historische Seminar der Christian-Albrechts-Univ. zu Kiel abgehalten wurde. Neben einer programmatischen Einleitung von Rike Szill (S. 1–18) sowie einem gelungenen Resümee durch Kordula Wolf (S. 467–486) gliedert sich der Band in drei große Abschnitte zu jeweils fünf oder sechs Artikeln. Den Beginn macht der Abschnitt mit dem Titel „Eroberung erleben“, in dem sich ein thematischer Überblicksbeitrag von Hermann Kamp (S. 21–45), drei Studien zu frühma. Fallbeispielen mit Blick auf je eine konkrete schriftliche Quelle – nämlich auf den Liber pontificalis durch Philipp Winterhager (S. 47–72), auf Einhards Vita Karoli durch Philipp Frey (S. 73–96) und auf das Lobgedicht In honorem Hludowici des Ermoldus Nigellus durch Anne Foerster (S. 97–122) – wie auch ein Beitrag von Christoph Mauntel (S. 123–151) zur Darstellung der Eroberung beziehungsweise des Herrschaftswechsels in der Normandie in der ersten Hälfte des 15. Jh. finden. Der zweite Abschnitt trägt den Titel „Eroberung bewältigen“ und sticht dadurch hervor, dass – wohl unbeabsichtigt – alle Beiträge auf Themen fokussieren, die an den ‘Rändern’ des ma. Europa angesiedelt sind. So widmet sich Michael Grünbart (S. 155–180) den Strategien zur Bewältigung von Eroberung im Byzantinischen Reich. Richard Engl (S. 181–208), Robert Friedrich (S. 209–235) und Eric Böhme (S. 237–265) zeichnen die Handlungsspielräume muslimischer Gemeinschaften im westlichen Mittelmeerraum im Angesicht christlicher Eroberung nach. Abschließend richten Julia Bühner (S. 267–294) und Isabelle Schürch (S. 295–315) ihr Augenmerk auf und über den Atlantik und thematisieren die Bewältigung der spanischen Eroberung durch die Ureinwohner der Kanaren wie auch Amerikas ab dem 15. Jh. Der dritte Abschnitt, dessen Beiträge sich um das Thema „Eroberung gestalten“ gruppieren, geht auf verschiedene Formen des langfristigen Umgangs mit Eroberung ein. Diese reichen von Versuchen der Einigung zwischen Eroberten und Eroberern, wie sie Stephan Bruhn (S. 319–354) am Beispiel der dänischen Herrschaft über England in der ersten Hälfte des 11. Jh. darstellt, bis zum genauen Gegenteil, wenn zum Beispiel irische Gelehrte die hochma. anglonormannische Eroberung Irlands in ihren Schriften zu delegitimieren versuchen, wie Marcel Bubert (S. 375–409) zeigt. In Summe bietet der Band ein buntes Potpourri von Beiträgen, die die großen Themenbereiche des Erlebens, Bewältigens und Gestaltens von Eroberung im MA einmal mehr und einmal weniger gut treffen. Die dafür herangezogenen Quellen sind durchaus vielfältig und reichen von panegyrischer Dichtung über historiographische Werke oder zweisprachige Vertragstexte bis zu auf Baumwolltücher gemalten piktorialen Erzählungen aus dem mesoamerikanischen Raum. Dabei muss man sich bei der Lektüre immer wieder die Tatsache vor Augen führen, dass – wie auch Szill in ihrer Einleitung anmerkt (S. 7) – die Anzahl an überlieferten ma. Quellenbeständen aus der Hand von ‘Eroberten’ vergleichsweise gering ausfällt.
Andreas Obenaus
(Rezensiert von: Andreas Obenaus)