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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Creative Selection between Emending and Forming Medieval Memory, ed. by Sebastian Scholz / Gerald Schwedler (Millennium-Studien 96) Berlin / Boston 2022, De Gruyter, VIII u. 204 S., Abb., ISBN 978-3-11-075660-9, EUR 109,95. – Das Konzept des Bandes setzt bei einem produktiven Komplementärbegriff an: Nicht nur die Prozesse des ‘Erinnerns’, sondern vielmehr die spezifischen Mechanismen des ‘Vergessens’ stehen im Fokus des Interesses. Die Hg. knüpfen damit konzeptionell und methodisch an jene Überlegungen an, die Patrick Geary in seiner Studie Phantoms of Remembrance von 1994 angestellt hat (vgl. DA 54, 232f.). Mit den vergessenen, aber dennoch in bestimmter Weise fortwirkenden ‘Phantomen’ hatte Geary, der selbst als Vf. im Band präsent ist, einen Begriff geprägt, den er zur Analyse des 11. Jh. fruchtbar machte, in welchem er eine signifikante Veränderung in den Praktiken und Medien des Erinnerns und Vergessens konstatierte. Die Hg. machen sich daran, diesen Ansatz auch für die Jahrhunderte des frühen MA zu operationalisieren, indem sie gezielt Vorgänge einer ‘kreativen Selektion’ in den Blick nehmen und dabei gleichzeitig beabsichtigen, die mediävistische Erinnerungsforschung um den oftmals zu wenig beachteten Aspekt des Vergessens zu ergänzen. Erinnerung wird oft gezielt an das Selbstverständnis der jeweiligen Gegenwart angepasst, womit spezielle Verfahren der Selektion einhergehen. Bei deren Erforschung geht es folglich um die Frage, welche konkreten Prozesse an dieser Auswahl beteiligt sind und welche Akteure mitunter darüber entscheiden, was erinnert und was vergessen wird. Sowohl die jeweiligen Inhalte der Erinnerung als auch die Techniken und Medien des Memorierens geraten dabei in den Fokus. Patrick Geary (S. 15–26) resümiert seinen eigenen Weg zu diesem Thema und diskutiert die theoretische Literatur über Erinnerung und memoria der vergangenen Jahrzehnte. Angeregt durch Merleau-Pontys Verständnis von Erinnerung als einem aktiven und kreativen Prozess setzt sich G. etwa kritisch mit der Theorie von Jan und Aleida Assmann auseinander. Während diese suggerierten, dass ganze Gesellschaften quasi als kollektive Akteure an der Konstruktion von Erinnerung beteiligt seien, plädiert G. dafür, den Fokus auf die konkreten Gruppen zu richten, die Erinnerung im Namen einer größeren Gemeinschaft produzieren, dabei aber durchaus partikulare Interessen verfolgen. In Bezug auf Erinnern und Vergessen interessiert sich G. vor allem für Medialität: Es geht um die spezifischen medialen Formen und Praktiken der Registrierung und Vermittlung sowie darum, welche Auswirkungen die Speicherungssysteme darauf haben, was überliefert wird und was nicht. Diese konzeptionellen Perspektiven auf Selektionsvorgänge werden in den Beiträgen anhand unterschiedlicher Fallbeispiele verfolgt. Während Walter Pohl (S. 27–40) Phantomen der ‘Identität’ in frühma. Historiographie auf der Spur ist, widmet sich Ian Wood (S. 41–59) selektiver Erinnerung bei Jonas von Bobbio. Michael J. Kelly (S. 61–77) verfolgt die Strategien, mit denen Isidor von Sevilla danach trachtet, Erinnerungen an den westgotischen König Gundemar zu tilgen. Auf welche Weise narrative Texte der Karolingerzeit die Zugehörigkeit bestimmter Personen zur politischen Elite verschweigen oder akzentuieren, ist Gegenstand der Analyse von Philippe Depreux (S. 79–90), bevor Gerald Schwedler (S. 91–104) die spezifische Methode des Auslassens bei Gregor von Tours zum Vorschein bringt. Wie Sch. plausibel macht, lassen sich Prinzipien identifizieren, die das Vergessen bestimmter Aspekte in den Werken Gregors strukturieren und damit andere Elemente der Erzählung, wie das Handeln der Bischöfe, besonders akzentuieren. Während Michael Eber / Stefan Esders / David Ganz / Till Stüber (S. 105–136) Selektionsverfahren in Kirchenrechtssammlungen untersuchen, nimmt Helmut Reimitz (S. 137–151) ‘Wahlverwandtschaften’ des Früh-MA in den Blick, wie sie in Königskatalogen oder Genealogien erscheinen. Jörg Sonntag (S. 153–169) analysiert instruktive Beispiele monastischer ‘Phantome’, indem er etwa zeigt, wie bestimmte Akteure in der Ordenshistoriographie zugunsten anderer vergessen wurden, aber ebenso herausarbeitet, wie kreative Selektion im monastischen Leben durch Rituale bewerkstelligt wurde. Einen hochma. Wandel des Erinnerns thematisiert Manfred Groten (S. 171–186) anhand der spezifischen Aneignung Karls des Großen sowie der Geschichtstheologie Ottos von Freising im 12. Jh. Gordon Blennemann (S. 187–197) rundet den Band mit zusammenfassenden methodischen Überlegungen zu Prozessen des Erinnerns und Vergessens ab. Der Band enthält im Ganzen erhellende Studien zu kreativen Selektionsprozessen im früheren MA, welche die Erinnerungsforschung durch ihren Fokus auf Praktiken des Vergessens um einen einschlägigen Aspekt bereichern.

Marcel Bubert

(Rezensiert von: Marcel Bubert)