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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Philipp N. Spahn, Die Bibel als Norm? Das Ringen um das Recht der Kirche in Streitschriften aus der Zeit des Investiturstreits, ca. 1050–1140 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 335 – Recht im ersten Jahrtausend 2) Frankfurt a. M. 2022, Vittorio Klostermann, 416 S., ISBN 978-3-465-04544-1, EUR 89. – Die im Jahr 2020 angenommene Frankfurter Diss. enthält eine Menge wertvoller Forschungsergebnisse zu Themen und Autoren des Investiturstreits. Sie ist gegliedert in zwei Teile. Der erste untersucht die Bedeutung der Bibel im kanonischen Recht anhand einerseits der polemischen Literatur des Investiturstreits, andererseits kanonistischer Texte bis einschließlich des Decretum Gratiani. In der Tat sollte man diese zwei Bereiche nicht zu streng voneinander trennen; der Wert von S.s Arbeit liegt nicht zuletzt darin, dass seine Untersuchung Textsorten zusammenbringt, die die Forschung gewöhnlich nicht in einen Dialog treten lässt. Ein kurzer Überblick zur Geschichte der Bibel vor dem 11. Jh. ist ebenfalls hier zu finden. Der zweite Teil behandelt die biblische Begründung der Zweigewaltenlehre. Er besteht in verschiedenen Einzeluntersuchungen zu spezifischen Passagen in den politischen Theorien der papstfreundlichen und papstfeindlichen „textual communities“ und ihrem biblischen Hintergrund. Aus der päpstlichen Partei zieht S. vor allem Gregor VII., Bernold von Konstanz, Manegold von Lautenbach, Anselm von Lucca und Bonizo von Sutri heran. Für die Gegenseite präsentiert er Argumente unter anderem aus den Werken Sigeberts von Gembloux, des Normannischen Anonymus, Wenrichs von Trier, Hugos von Fleury und Widos von Osnabrück. In diesem zweiten Teil ist das Buch am stärksten; hier stellt S. die unterschiedlichen Interpretationen einzelner biblischer Texte vor, auf denen die Autoren ihre Argumente zur Legitimität, zum Primat oder zum Verhältnis zwischen König und regnum auf der einen und Papst und sacerdotium oder ecclesia auf der anderen Seite aufbauten. Hier wird die gelasianische Zweigewaltenlehre diskutiert, die Lehre von den zwei Schwertern, die biblische Grundlegung der Kirche, die Interpretationen der vielbemühten Passagen in Matth. 16 und 18 mit dem Bekenntnis des Petrus und der Schlüsselübergabe, die biblische Grundlegung irdischer Herrschaft, der König als Gesalbter Gottes, an den niemand die Hand legen darf. Diese Passagen überzeugen durch intensive Kenntnis der Quellen und der Literatur und sind so gut aufgebaut und klar geschrieben, dass der zweite Teil allein ein vollwertiges Buch hätte werden können und vielleicht sogar sollen. Denn die Ausführungen im ersten Teil wären als Hintergrund größtenteils gar nicht nötig gewesen. Die lateinischen Bibelübersetzungen, die Tatsache, dass nicht jeder Zugang zu einer vollständigen Bibel hatte, dass Christen die Bibel als letztgültige Autorität betrachteten, das alles trägt nichts zum Verständnis bei. S.s Darlegungen zu diesen Themen sind zwar voller gelehrter Zitate, bleiben aber an der Oberfläche und beim Offensichtlichen und allzu Bekannten. Nicht immer ist ersichtlich, was sie mit den exzellenten Untersuchungen im zweiten Teil zu tun haben. Auch mit welchem Grund das Buch den Eindruck erwecken kann, es gehe ihm vorrangig um das Thema „Recht“, erschließt sich nicht. S. versucht zwar zu begründen, dass die biblischen Interpretationen zu königlicher und päpstlicher Autorität mit weltlichem und kanonischem Recht in Verbindung stehen, doch diese Verbindungen bleiben undeutlich. Einmal fordert S. mit Blick auf Bernold, man solle schärfer darauf achten, wie die Bibel gebraucht wird. Man wünscht sich, er hätte dasselbe auch bei einem Autor wie Gratian getan. Stattdessen bietet er eine Statistik zur Häufigkeit von Bibelzitaten in den dicta Gratiani des Decretum. Ihm zufolge zitiert Gratian die Bibel nicht in den Kanones; Bibelzitate erscheinen nur in den dicta. Aber das ist irreführend, denn die Unterteilung in Kanones und dicta geht nicht auf Gratian zurück, sondern ist jünger. S.s Behauptung, nicht jeder Teil der Bibel habe für Gratian dieselbe Autorität, beruht auf mangelndem Verständnis für Gratians Hermeneutik. Für Gratian sind die Kultgesetze des Leviticus genauso autoritativ wie die Zehn Gebote, man muss nur die allegorische, tropologische oder anagogische Deutung der betreffenden Passage verstehen, um ihre Bedeutung und damit Autorität ganz zu erkennen. Kleinere Probleme dieser Art finden sich mehrfach im ersten Teil, und S. selbst tut sich schwer, seinen Lesern klarzumachen, wie Teil 1 und 2 zusammenhängen. Der Wert des Buchs liegt in seiner Betrachtung unterschiedlicher „textual communities“ im Investiturstreit und der verschiedenen Interpretationen biblischer Texte jeweils in der pro- und antipäpstlichen Polemik. Eine Theologie des kanonischen Rechts und eine nuancierte Behandlung biblischer Autoritäten im kanonischen Recht muss noch geschrieben werden. Und man darf sich weiter fragen, wie man die beiden Themen am besten zusammenbringt.

Atria A. Larson (Übers. V. L.)

(Rezensiert von: Atria A. Larson)