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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Bernhard Zeller, Diplomatische Studien zu den St. Galler Privaturkunden des frühen Mittelalters (ca. 720–980) (MIÖG Ergänzungsbd. 66) Wien / Köln 2022, Böhlau, 632 S., Abb., ISBN 978-3-205-21487-8, EUR 95. – Die großangelegte diplomatische Untersuchung, eine Habil.-Schrift der Univ. Wien, bildet den Abschluss einer langjährigen Beschäftigung des Vf. mit dem frühma. Urkundenbestand des Klosters St. Gallen. Erst die Erschließung der riesigen Materialfülle durch das Faksimilewerk Chartae Latinae Antiquiores (ChLA) und durch den Abschluss des neuen St. Galler Urkundenbuchs Chartularium Sangallense (ChSG) mit den Bänden I (bis 840, 2013) und II (841–999, 2021), an denen Z. mitwirkte (siehe oben S. 701–704), hat die Voraussetzungen für diese Studie geschaffen. Mit Ausnahme des rätischen Sonderbestands fehlte bisher eine solche umfassende Untersuchung. Das Ziel der vorliegenden Studien war eine diplomatische Grundanalyse und, da die Urkunden fast ausnahmslos aus Alemannien stammen, nach Möglichkeit die Darstellung einer Urkundenlandschaft Alemannien. Die Urkunden werden aus praktischen und Einheitlichkeitsgründen nach dem alten Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen von Hermann Wartmann zitiert, da ChSG I und II bei der langen Bearbeitungszeit noch nicht vorgelegen haben; doch werden die Referenzen im ChSG ebenfalls angegeben. Die Darstellung der Frühzeit im einleitenden Kapitel zur Geschichte des Klosters St. Gallen setzt der z.T. tendenziösen und widersprüchlichen späteren klösterlichen Geschichtsschreibung die Aussage der Urkunden entgegen. Nach der Mitte des 10. Jh. endet die Urkundenüberlieferung, was mit tiefgreifenden Veränderungen in der Organisation und Verwaltung der klösterlichen Grundherrschaft zusammenhängt. Im Teil I: Grundlagen werden die Rechtsgeschäfte, die Orte und Formen der Rechtshandlungen, die Urkundenschreiber, die Archivordnung und das „Fortleben“ der Urkunden behandelt. Obwohl die St. Galler Überlieferung außergewöhnlich dicht ist, wird die Verlustquote sogar hier auf 50–75 % geschätzt (S. 130). Teil II befasst sich mit den allgemeinen äußeren und inneren Urkundenmerkmalen, Teil III mit den Formen und Formeln. Auf dieser formal-diplomatischen Grundanalyse beruhen die nachfolgenden Abschnitte. Das zentrale Kapitel IV untersucht die Entwicklung des sankt-gallischen Urkundenwesens bis ins ausgehende 10. Jh. Der Vf. kann die engen Zusammenhänge mit der Klostergeschichte im Allgemeinen aufzeigen: fränkisch-rätische Verbindungen bis in die 750er Jahre; die Konstanz-Reichenauer Neuanfänge nach der Absetzung Otmars 759; das Wirken Waldos und seines Schreiberkreises bis zum Weggang Waldos 784; die Konstanz-Reichenauer Rückbindungen unter Bischof Egino und Abt Werdo, als erstmals westliches Formelgut aus Marculf-Formularen rezipiert wurde; die Neuorganisation des Skriptoriums in der Gozbert-Ära mit Bernwig, Wolfcoz und dem Abtsneffen Cozpreht; die Kontinuität zur Grimald/Hartmut-Zeit; das Wirken von Notker, Iso, Marcellus, Ratpert; die Konsolidierung und Rückbildung unter Bernhard und Salomo; die Formulae Sangallenses miscellaneae und die Collectio Sangallensis; das Nachwirken im lokalen Kontext im 10. Jh. Daran schließt sich Teil V an, wo den Spuren nichtklösterlichen Urkundenwesens mit oft lokalem oder kleinräumigem Tätigkeitsbereich nachgegangen wird. Teil VI behandelt Formulare, Formelsammlungen und -behelfe. Die Ausführungen sind jeweils mit einer Fülle von Belegen versehen, und den Kapiteln sind hilfreiche Tafeln mit Übersichten beigegeben. Zuletzt steckt der Vf. die Koordinaten einer historischen Urkundenlandschaft Alemannien ab, wobei er drei Binnenräume unterscheidet: das Oberrheingebiet, das südliche Bodenseegebiet und Inneralemannien nördlich des Bodensees. Ein Anhang mit einer Übersicht der Urkunden, einer mit den Actum-Orten nicht-klösterlicher Schreiber, versehen mit acht Karten, ein Register der Hss., Urkunden und Formulare, Register der Personen- und der Ortsnamen beschließen diese herausragenden diplomatischen Studien, die über St. Gallen hinaus einen Maßstab für die Erforschung des frühma. Urkundenwesens bilden werden.

Ernst Tremp

(Rezensiert von: Ernst Tremp)