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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Felix Heinzer, Gold in the Sanctuary. Reassessing Notker of St Gall’s Liber Ymnorum (Studies and texts 228) Toronto 2022, Pontifical Institute of Mediaeval Studies, XVI u. 289 S., 23 Abb., ISBN 978-0-88844-228-4, CAD 95. – Die Synode von Meaux 845 lehnte die neuartigen sequentiae ab, und Agobard von Lyon († 840) wandte sich in De antiphonario sogar gegen alle nicht-biblischen Elemente im Choral. Den Gegenpol dazu bildet Walahfrid Strabo († 849), der die stetige Weiterentwicklung der Liturgie verteidigte. In diesem Spannungsfeld verortet der Vf. Notkers gewagtes Unterfangen, ein ganzes Buch mit Sequenzen vorzulegen und als auktoriales Werk zu präsentieren. Wie Notker dieses Projekt legitimiert, arbeitet der Vf. in einem close reading des Widmungsbriefs an Liutward von Vercelli heraus. Besonderes Augenmerk lenkt er auf den Titel Liber Ymnorum. Nach Walahfrid ist dies in der hebräischen Tradition die Bezeichnung für das Buch der Psalmen. Wenn Notker seine Sequenzensammlung so nennt, gibt er ihr beinahe biblischen Status. Das ist ambitioniert, aber der Vf. kann nachweisen, dass die Form der Sequenzen den Titel durchaus rechtfertigt. Notker schreibe nämlich keine metrischen Verse, folge also nicht den gewohnten Pfaden spätantiker und frühma. christlicher Dichtung, sondern setze in seinen Sequenzen das Prinzip des parallelismus membrorum der Psalmen perfekt um. Auch ausgewählte Sequenzen unterzieht der Vf. einem close reading und spürt dabei bisher unbekannte Quellen auf: Er zeigt etwa, dass gerade die Weihnachtssequenz besonders dichte Bezüge zur Liturgie des Fests aufweist – als wolle Notker das erste Stück der Sammlung besonders fest in der traditionellen Liturgie verwurzeln und so seine Neuschöpfungen absichern. Auch in Texten über Notker entdeckt der Vf. bislang nicht beachtete und teils überraschende Bezüge. So fasst die Vita beati Notkeri Balbuli (13. Jh.) Notkers Dichtung als vom Heiligen Geist inspiriert auf und bezeichnet den Vorgang als mentis alienatio, als mystisches Erlebnis der Entrückung. Dabei zitiere der anonyme Autor über weite Stellen fast wörtlich den Traktat De contemplatione Richards von St. Victor († 1173). Die größte Stärke der Studie liegt aber darin, das Fortleben der Notkerschen Sequenzen bis ins 16. Jh. zu verfolgen. Als ausgewiesener Kenner der Hirsauer Reform kann der Vf. – aufbauend auf der Pionierforschung von Lori Kruckenberg zum Hirsauer Sequentiar (vgl. DA 55, 686) – zeigen, welche entscheidende Rolle Hirsau für die Verbreitung von Notkers Liber Ymnorum bis hin nach Böhmen und Italien spielte. Als „missing link“ zwischen St. Gallen und Hirsau nimmt er St. Emmeram an. Das neue Repertoire habe als Subtext sogar für Werke außerhalb der Liturgie gedient. Aus der Fülle der Beispiele, die der Vf. bescheiden als „far from systematic let alone exhaustive“ (S. 196) bezeichnet, sei nur eines genannt: Notkers Bild von den Engeln, die das neugeborene Jesuskind „wie Hebammen“ umringen, finde man etwa in den Commentaria in Canticum canticorum Ruperts von Deutz († 1129) wieder. Musikwissenschaftler mögen eine musikalische Analyse der Sequenzen vermissen, doch ist die Behandlung des Themas durch einen Philologen insofern absolut gerechtfertigt, als Notker nicht Komponist, sondern Dichter war. Die Philologin wiederum ist begeistert über die Neuentdeckungen auf dem Gebiet der Quellen und des Fortlebens und hofft, dass künftige Recherchen noch viele weitere Funde zutage bringen werden. Welche bedeutende Rolle Notkers Sequenzen in der vormodernen Kultur spielten, zeigt die Studie auf jeden Fall schon jetzt.

Franziska Schnoor

(Rezensiert von: Franziska Schnoor)