DA-Rezensionen online

Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

Sie bleibt nach Erscheinen der Printausgabe online verfügbar.

„Lucca“ Summa on Rhetoric. The Earliest Italian Ciceronian Treatise in the Middle Ages, ed. by Karin Margareta Fredborg (Edizione nazionale dei testi mediolatini d’Italia 58 – serie 1,29) Firenze 2021, SISMEL – Edizioni del Galluzzo, XIII u. 129 S., ISBN 978-88-9290-068-4, EUR 42. – Gut dreißig Jahre nach ihrer Ausgabe der Kommentare zu Ciceros De inventione und der im MA als Rhetorica secunda Ciceros geltenden Herennius-Rhetorik von Thierry de Chartres (1988, vgl. DA 47, 237f.) hat F. die schmale Summa de Rethorica in Erstedition vorgelegt. Dieses in Norditalien in der zweiten Hälfte des 12 Jh. entstandene Lehrbuch eines unbekannten Autors bietet in der Zeit der Artes dictaminis das klassische Programm einer politisch und forensisch orientierten Rhetorik vermittels längerer, teils wörtlicher, teils paraphrasierender Auszüge aus De inventione und der Herennius-Rhetorik, ergänzt um Erklärungen und Erweiterungen, die das antike Gerüst für die Ausbildung im 12. Jh. adaptieren. In einem ausführlichen Vorwort handelt F. über Entstehungszeit und -ort, die Quellen und Überlieferungsträger. Tradiert ist die Rhetorik in einer seit längerem bekannten Hs. aus Lucca (Bibl. Feliniana, 614) – daher ihr Name –, zudem ist mittlerweile ein Mailänder Codex bekannt geworden (Bibl. Ambrosiana, I. 29 sup.): Beide Textzeugen sind, wie F. in einer methodisch klaren Darlegung aufzeigt, voneinander unabhängig und damit stemmatisch gleichwertig. Die Edition selbst bietet neben dem kritischen Apparat, der wenig leserfreundlich statt auf Zeilen nur auf Paragraphen verweist, einen zuverlässigen Quellenapparat, in dem die Vielzahl der namentlich angeführten Zitate identifiziert, aber auch die Übernahmen aus der Schultradition der Cicero-Erklärung (Victorinus, Grillius, Thierry u.a.) nachgewiesen sind. Was die Textkonstituierung anbetrifft, so wird man F. hinsichtlich Variantenwahl und der eigenen sowie von M. Winterbottom beigetragenen Emendationen fast immer beipflichten, Widerspruch erfordert indes die Examinatio der zugrunde liegenden Cicero-Auszüge: Der Autor der Summa hatte mit Sicherheit einen Text der sogenannten Integri (inv.)- bzw. Expleti (Her.)-Tradition vor sich und nicht den Text einer kritischen Edition des 20. Jh. Die Mehrzahl der etwa 40 Angaben zu Cicero bzw. zur Rhetorica ad Herennium im Apparat ist missverständlich, wenn nicht falsch; F. greift sogar vereinzelt unter Berufung auf Cicero bzw. Rhetorica ad Herennium in den Summa-Text ein, um Integri-/Expleti-Lesarten, d.h. Lesarten, die der Autor der Summa in seinen Vorlagen vorgefunden hat, zugunsten von variae lectiones anderer Hss.-Klassen, die sich in den Cicero- bzw. Rhetorica ad Herennium-Ausgaben durchgesetzt haben, oder sogar neuzeitlichen Konjekturen auszutauschen. Doch darüber an anderer Stelle ausführlicher; hier soll Dank ausgesprochen werden, dass wenige Jahre nach Filippo Bogninis Ausgabe von Menegaldus’ De inventione-Kommentar (2015) ein weiterer zentraler Text zur Cicero-Rezeption im 12. Jh. in einer zuverlässigen Edition erschlossen wurde.

Rainer Jakobi

(Rezensiert von: Rainer Jakobi)