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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Steffen Bosshammer, Wege zum Frieden im nachrömisch-gotischen Italien. Programmatik und Praxis gesellschaftlicher Kohärenz in den Variae Cassiodors, Berlin / Boston 2021, de Gruyter, VI u. 305 S., ISBN 978-3-11-070677-2, EUR 99,95. – Die Arbeit, die auf einer Marburger Diss. aus dem Jahr 2020 beruht, will die Frage beantworten, wie es im ostgotischen Italien zu einer „gelingenden Form des Zusammenlebens“ (S. 7) zwischen zugewanderten Goten und einheimischen Romanen gekommen sei. B. bestreitet nicht, „dass Theoderich seine Untertanen in zwei Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben einteilte“ (S. 14), will deren Verhältnis aber nicht als „friedliche Koexistenz“, sondern als „friedliches Zusammenleben“ verstanden wissen; worin sich das eine vom anderen unterscheidet, lässt sich nur erahnen: „Harmonie und Zufriedenheit im Staat“, wie es an einer Stelle (S. 9) heißt? Dass die beiden Bevölkerungsgruppen „harmonisch“ zusammenlebten, war nach Ansicht von B. das Verdienst Cassiodors, der als „Minister“ Theoderichs „Integrationsstrategien sowie Lösungsansätze für politische Ordnungsfragen“ (S. 257) entwickelt und mittels der in den Variae enthaltenen Schreiben auch tatsächlich umgesetzt habe: „Auch wenn Cassiodor dies so leider an keiner Stelle der Variae explizit formulierte“ (S. 9), habe er eine Politik der Integration, ja Verschmelzung verfolgt, die vier Elemente umfasst habe: 1) Gerechtigkeit, 2) wirtschaftliche Prosperität, 3) Ausblendung und Vermeidung religiöser Konflikte, 4) äußere Sicherheit und militärische Planung. Jedem dieser vier Elemente ist ein eigenes Kapitel gewidmet; am Ende der Arbeit steht eine ausführliche Zusammenfassung. B. interpretiert die Variae unter der Voraussetzung, dass Cassiodor sowohl für den Wortlaut aller in dieser Sammlung enthaltenen Schreiben – also nicht bloß der Schreiben, die er zwischen 533 und 537 als Prätoriumspräfekt schrieb, sondern auch derjenigen, die er nach eigenem Bekunden im Namen und Auftrag ostgotischer Könige verfasste – verantwortlich ist als auch für die Entscheidungen, die durch diese Schreiben kommuniziert werden. Subjekt politischer Entscheidungen ist bei ihm allein Cassiodor. Diese methodische Prämisse wird nicht begründet und ist aus vielen Gründen schwer zu rechtfertigen: Cassiodor selbst betont den Unterschied zwischen dem, was er im eigenen Namen und dem, was er im Namen und Auftrag von Königen sagt; seine Amtstätigkeit begann erst 507, als Theoderichs Herrschaft längst etabliert war, und wurde mehrfach durch lange Pausen unterbrochen; er hatte in jedem Amt am Hof stets gleichrangige Kollegen, die ihm keineswegs immer wohlgesonnen waren; zudem hatten natürlich auch hochrangige Goten wie Arigern oder Tuluin erheblichen Einfluss auf den König; ganz zu schweigen davon, dass Theoderich auch von Cassiodor selbst durchaus nicht als Marionette seines „Ministers“ dargestellt wird. Gewiss, Cassiodor gehörte zu denen, die 526 dem minderjährigen Athalarich zur Thronfolge verhalfen, aber zwischen 527 und 533 hatte er kein Hofamt inne. Ebenso problematisch ist der konsequente Verzicht auf eine historische Kontextualisierung der in den Variae gesammelten Briefe und Edikte. B. interpretiert die Schreiben ohne Rücksicht auf ihre Genese, als handle es sich um programmatische Äußerungen des politischen Willens Cassiodors. Dabei übersieht er, was Peter Classen schon 1950 in seiner Diss. (Kaiserreskript und Königsurkunde, vgl. DA 33, 608) herausgearbeitet hat: dass es sich bei den Königsurkunden überwiegend um Reskripte handelt, die als Reaktion auf Eingaben und Berichte von Untergebenen und Untertanen ergingen. Jeder Versuch, die Aussagekraft einzelner Schreiben einzuschätzen, muss daher von der Tatsache ausgehen, dass es sich fast immer um Entscheidungen in Einzelfällen handelt. Es versteht sich, dass auch Einzelfallentscheidungen sich an rechtlichen Normen orientieren; oftmals formulieren sie auch abstrakte Leitlinien politischen Handelns. Allgemeingültige Regeln setzen jedoch allein die (wenigen) Edikte Theoderichs und Athalarichs. Diese Normen sind im übrigen, wie in den Variae oftmals betont wird, im Wesentlichen diejenigen des römischen Rechts auf dem Stand des späten 5. Jh., was von B. so gut wie gar nicht berücksichtigt wird. Vor allem in den Novellen zum Codex Theodosianus hätte B. viele Parallelen zur rhetorischen Topik der Variae finden können. B. zeichnet ein idyllisches Bild des ostgotischen Italien und sucht bewusst nach aktualisierenden Analogien zur bundesdeutschen Migrationsdebatte der Gegenwart. Dabei wird unterschlagen, dass Theoderichs Goten nicht als wehrlose Flüchtlinge, sondern als Heer nach Italien kamen und dort als kleine Minderheit in hohem Maße privilegiert wurden. Befremdlich ist auch der unkritische Gebrauch von Kategorien wie etwa Gerechtigkeit – „Rechtsgleichheit“ für Römer und Goten bedeutet keineswegs gleiches Recht für alle –, wirtschaftliche Prosperität, „aufgeklärter Mensch“ (S. 148) – oder Antisemitismus. Die Arbeit reproduziert an vielen Stellen Positionen, die in der internationalen Forschung längst revidiert wurden – z. B. „Bischofsherrschaft“ oder Ansiedlung – und enthält im Detail viele Fehler, auch in elementaren Dingen: Die von Theodor Mommsen gesammelten Epistulae Theodericianae variae (MGH Auct. ant. 12 S. 386–392) etwa gehören nicht zu den Varien Cassiodors, wie B. meint (S. 180). Die Fußnoten sind überladen mit summarischen Verweisen auf Literatur, die nicht immer zum Thema passt. Durch Verwendung von Kurztiteln hätte der Umfang ohne Verlust an Substanz erheblich verringert werden können.

Hans-Ulrich Wiemer

(Rezensiert von: Hans-Ulrich Wiemer)