Isabelle Chwalka, Kein Interesse? Fremd- und Selbstwahrnehmung in der deutschen und englischen Historiographie des 12. Jahrhunderts (Orbis Mediaevalis 19) Göttingen 2022, V&R unipress, 446 S., ISBN 978-3-8471-1349-2, EUR 65. – Der Band widmet sich der Selbst- und Fremdwahrnehmung des heiligen römischen Reichs und Englands (bzw. der deutschen und englischen „Nation“, S. 25) in der Historiographie des 12. Jh. sowie der Frage nach den den Historiographien beider Entitäten gemeinsamen Erzählungen und Ansichten (S. 14–18). Auf die Darlegung der Untersuchungsgrundlagen folgen steckbriefartige Informationen zu den berücksichtigten Geschichtsschreibern und Werken mit einer quantitativen Auswertung im Hinblick auf die Nennung der jeweils anderen „Nation“. Der Vergleich zeigt, dass die englischen Quellen das Reich kaum unerwähnt lassen, wohingegen ca. ein Viertel der im Reich entstandenen Quellen ohne Nennung Englands auskommt (S. 140). Im Folgenden rücken die Erzählungen der drei meisterwähnten Ereignisse in den Mittelpunkt, dazu gehören das Alexandrinische Schisma, die Gefangenschaft König Richards I. Löwenherz sowie für das Reich die Heiraten zwischen Heinrich V. und Mathilde von England und Heinrichs des Löwen mit Mathilde Plantagenet, für die englischen Quellen Heinrich V. im Investiturstreit. Das Ergebnis der Untersuchung erklärt den Titel, der auch ohne Fragezeichen dastehen könnte. Offensichtlich bestand in der Geschichtsschreibung des Reichs kein permanentes Interesse an England, was auch umgekehrt gilt: Dort tritt das Reich v.a. dann in Erscheinung, wenn es die eigene Geschichte oder das Papsttum berührt. Die „Nation“ habe den Darstellungen als „persuasives stilistisches Mittel“ gedient, um Konflikte zwischen Personen auszuweiten (S. 237). Der Band zeigt das Potenzial, das die Untersuchung von Wahrnehmungen oder Vorstellungen birgt, besonders unter Berücksichtigung größerer Mengen an Quellen im „internationalen“ Vergleich. Das Forschungsziel ist allerdings nicht scharf genug umrissen. An einer Stelle werden „kulturell konnotierte Vorstellungs- und Darstellungsmuster“ (S. 391) explizit ausgeschlossen. Vorher wurde aber resümiert, dass „die breite Streuung der Quellen Darstellungs- bzw. Argumentationsmuster erkennen“ lasse (S. 239). Eine Begriffsklärung hätte diesen Widerspruch auflösen können. Der zumindest partielle Ausschluss von Darstellungsmustern hat zudem ein allzu selbstreferenzielles Bild von der ma. Geschichtsschreibung zur Folge. Antike und biblische Muster werden nur dann erwähnt, wenn sie von den Geschichtsschreibern explizit genannt werden (S. 277–279, 281). Fraglich ist, ob Aussagen über „Nationen“ auf Grundlage der Forschungskonzeption möglich sind. Meist stehen Könige und Kaiser im Mittelpunkt, keine Kollektive. Eine Folge davon dürfte die Feststellung der Vf. sein, dass nicht erkennbar sei, ob die Geschichtsschreiber „über festgefügte Vorstellungen des Anderen verfügten bzw. vertieft über Unterschiede zwischen den beiden Nationen nachdachten“ (S. 396f.). Nichtsdestoweniger verleiht die quantitative Auswertung den Aussagen zumeist mehr Gewicht als eine exemplarische. Originell gelungen ist der Vf. die Umsetzung der Fragestellung in den Untersuchungsaufbau. Die Aufmerksamkeit, die sie den kommunikationsgeschichtlichen Aspekten der Herkunft des Wissens der Geschichtsschreiber widmet, verleiht der Darstellung eine quellenkritische Tiefendimension. Abgesehen von den zwei geäußerten Kritikpunkten ist die Arbeit daher mit großem Gewinn zu lesen.
Kilian Baur
(Rezensiert von: Kilian Baur)