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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,2 (2023) *.

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Savants et croyants. Les juifs d’Europe du Nord au Moyen Age, sous la direction de Nicolas Hatot / Judith Olszowy-Schlanger, Gand 2018, Editions Snoeck, 264 S., 152 Abb., ISBN 978-9-461614-643, EUR 35. – Es handelt sich um den Katalog der gleichnamigen Ausstellung des Jahres 2018 im Musée des Antiquités in Rouen. In diesem Rahmen wurde gemäß den Hg. (S. 14) erstmals überhaupt das ma. Judentum Frankreichs in Form einer Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit nähergebracht – freilich mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Normandie und deren Brückenfunktion in Bezug auf England. Den Anlass für die Präsentation bildete die öffentliche Zugänglichmachung eines 1976 im Hof des Justizpalasts von Rouen entdeckten und aufwendig restaurierten steinernen Hauses aus dem frühen 12. Jh. Dieses ist eindeutig dem ma. jüdischen Viertel der Stadt zuzuweisen und gilt als das älteste bekannte von Juden genutzte Bauwerk in Frankreich. Im Ausstellungskatalog präsentieren neben den beiden Hg. 19 Experten aus den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Archäologie, Bauforschung, Judaistik und weiteren Disziplinen die Ergebnisse ihrer einschlägigen Forschungen in für Wissenschaftler und interessierte Laien gleichermaßen gewinnbringend zu rezipierenden Kurzbeiträgen. Diese befinden sich jeweils am Beginn der vier Hauptkapitel und des einleitenden Teils. Gefolgt werden die Textblöcke jeweils von Beschreibungen und Ablichtungen der 66 inhaltlich zugehörigen Exponate aus Frankreich, England, Deutschland und Italien. Als Vf. der Objektbeschreibungen fungierten 18 – teils mit denjenigen der einführenden Textbeiträge identische – internationale Wissenschaftler. Weitere relevante Abbildungen sind in die einzelnen Aufsätze eingebunden. Die vier Hauptteile thematisieren das ma. Judentum in der Normandie und in England, Lehre, intellektuelles Leben und Kontroversen, das Individuum und die Gemeinschaft sowie Kult und Synagoge. Da es hier nicht möglich ist, auf alle 19 Beiträge einzugehen, ganz zu schweigen von den Exponaten, und allen Vf. gerecht zu werden, seien stellvertretend nur einige erwähnt, die mit neuen Erkenntnissen aufwarten und Forschungsdesiderate benennen. Mit der Geschichte der Juden in der ma. Normandie beschäftigt sich Gérard Nahon (S. 46–55). Er lehnt die von der Forschung allgemein anerkannte Identifizierung des Herkunftsorts eines Juden in einem lediglich in jüngerer Abschrift überlieferten hebräischen Bericht über eine Judenverfolgung von 1007 (Parma, Bibl. Palatina, ms. 2295, fol. 127v–129v [= Ms. De Rossi 563]) mit Rouen ab, der bisher als erster Beleg für eine jüdische Niederlassung in der Normandie galt (S. 50). Ähnliches gilt auch für den identisch geschriebenen Ortsnamen in einem Brief des 11. Jh. aus der Kairoer Geniza. Während sich N. für eine Lesung des Ortsnamens als REDUM ausspricht und ihn dem Ort Dormans in der Nähe von Reims zuweist, enthält sich Judith Olszowy-Schlanger (Exponat 6, S. 80f.) aufgrund des nicht eindeutig lesbaren Schluss-Mem in dem von ihr beschriebenen Brief der Kairoer Geniza einer endgültigen Festlegung. Philippe Cailleux / Dominique Pitte (S. 56–67) nehmen unter Berücksichtigung des steinernen Hauses die jüdische Gemeinde von Rouen bis zu deren Vertreibung im Jahr 1306 in den Blick. Nicht nur als bedeutenden Ort jüdischer Gelehrsamkeit (u. a. war Rashbam dort tätig), sondern auch als ein herausragendes Zentrum der Vermittlung arabischen Wissens im 12. Jh. charakterisiert Renate Smithuis (S. 102–107) Rouen. In einem kurzen Text zu jüdischen Siegeln in Frankreich und im Reichsgebiet weist Andreas Lehnertz (S. 190–195) darauf hin, dass entsprechende Siegel in Frankreich und England weit früher in Gebrauch und verbreitet waren als im regnum Teutonicum, und stellt ferner fest, dass von der Mehrzahl der überlieferten jüdischen Siegel Frankreichs noch Matrizen erhalten sind (wohl aufgrund von Konfiskationen), während diejenigen aus dem Reichsgebiet fast ausschließlich in Form von Wachsabdrücken vorliegen. Sicherlich werden diese und auch die übrigen Beiträge des ansprechend gestalteten und gut lesbaren Bandes der Forschung auch über die Normandie und Frankreich hinaus weitere Impulse verleihen.

Jörg R. Müller

(Rezensiert von: Jörg R. Müller)