Revisiting the Codex Buranus. Contents, Contexts, Composition, ed. by Tristan E. Franklinos / Henry Hope (Studies in Medieval and Renaissance Music 21) Woodbridge 2020, The Boydell Press, XLII u. 462 S., 32 farb. Abb., Tab., ISBN 978-1-78327-379-9, GBP 70. – Im Nachgang einer Tagung zum Codex Buranus (München, BSB, Clm 4660), die im Juli 2018 in Brixen, einem seiner diskutierten Entstehungsorte, stattfand, wird der Sammelband mit 13 Beiträgen publiziert. Bei der – angesichts des Forschungsgegenstands zweifelsohne gebotenen – interdisziplinären Auswahl der Beiträge folgen die beiden Hg. (vgl. Einleitung, S. 1–12, hier S. 5), ein klassischer Philologe und ein Musikwissenschaftler, gleichsam einem Zitat des verstorbenen Peter Godman (1955–2018): „no one masters all the skills required by the Carmina Burana“. Das im Titel des Bandes und variiert in mehreren Beitragstiteln zu findende Leitthema „Revisiting the Codex Buranus“ ist wörtlich zu nehmen, da oft lange bekannte Forschungsfragen wieder aufgegriffen werden; ja, es klingt als Motiv der Hg. gerade auch an, die bislang anscheinend wenig beachteten deutschsprachigen Publikationen einiger Beiträger der englischsprachigen Forschung zu vermitteln. Kirsten Yri (S. 13–38) bietet eine informative Übersicht über das musikalische Fortleben der Carmina Burana, wobei Orffs Vertonung von 1937 als klassischer Ausgangspunkt dient und „historically informed performances“ von MA-Musikgruppen ebenso betrachtet werden wie Aneignungen in populärer Musik. Carmen Cardelle de Hartmann (S. 39–66) verfolgt dreierlei parodistische Strategien in den Gedichten des Codex: Parodien auf geistliche und weltliche Texte (Bibel und Liturgie bzw. Liebesgedichte) einerseits sowie Parodie durch Juxtaposition von Gedichten (z. B. CB 89 und 90) andererseits. David A. Traill (S. 66–96) widmet sich anschließend am Beispiel bekannter Gedichte, z. B. CB 8 (Licet eger cum egrotis) oder CB 41 (Propter Syon non tacebo) von Walter von Châtillon oder der Vagantenbeichte des Archipoeta (CB 191: Estuans interius), der bevorzugt moralische Themen verhandelnden und häufig selbst mit parodistischen Mitteln arbeitenden Satire. Albrecht Classen (S. 97–118) zeigt, wie der erotische Diskurs in den Carmina Burana mit dem gelehrten Diskurs verschränkt ist, der auf klassische Bildungsinhalte referenzierend antike Götterwelt und Mythologie einbindet und in den intertextuellen Dialog mit antiken Vorbildern tritt. Das Spannungsverhältnis zwischen dem klassischen Bildungshorizont, den die moderne Intertextualitätsforschung herausarbeiten kann, und der Textwahrnehmung, die ein womöglich weniger gebildetes zeitgenössisches Publikum in den von Gesang und Musikbegleitung bestimmten performativen Aufführungen der Texte hatte, wird von Tristan E. Franklinos (S. 119–148) am Fallbeispiel der Altercatio Phyllidis et Florae (CB 92: Anni parte florida) beleuchtet. Das schon bei Classen thematisierte CB 185 (Ich was ein chint so wolgetan) steht auch im Mittelpunkt der folgenden Beiträge von Jonathan Seelye Martin (S. 149–170) und Peter Godman (S. 171–203). M. betont in dem makkaronischen Gedicht die Verbindung von Pastourelle, der Szenerie und Vergewaltigungsmotiv entnommen sind, und Frauenlied, der die weibliche Erzählperspektive entstamme, die im Gegensatz zur Pastourellentradition mit dem Frauenschicksal empathisch ist. G. ordnet es in eine Reihe weiterer Gedichte (z. B. CB 79: Estivali sub fervore, CB 89: Nos duo boni) ein, in denen den bäuerlichen Frauenfiguren schlagfertige Sprache verliehen wird – zum Nachteil ihrer männlichen Gegenüber und als ein Wendepunkt in der literarischen Wahrnehmung der rustica. Racha Kirakosian (S. 205–226) wendet sich den bislang weniger beachteten religiösen Gedichten des Codex Buranus zu, deren komplexes Netz von Beziehungen, das in einer „multidirectional method of reading“ (S. 205) erschlossen wird, ihrem Verständnis nach den Konflikt zwischen Gut und Böse im makrostrukturellen Arrangement der Hs. dramatisiert. Johann Drumbl (S. 227–250) unterzieht die geistlichen Spiele des Codex Buranus, die von Bernhard Bischoff im dritten Textband der Ausgabe Hilka / Schumann ediert wurden, einer Revision, um offen gebliebene editorische und interpretatorische Fragen zu beantworten. Heike Sigrid Lammers-Harlander (S. 251–281) gibt einen Überblick über die neumierten Lieder des Codex Buranus und bildet einige Lieder (CB 14, 19, 108, 119, 151), deren Melodie in anderen Hss. auch in diastematischer Notation überliefert ist, mit der synoptischen Transkription beider Notationssysteme ab. Hörbeispiele eines Rekonstruktionsversuchs mithilfe traditioneller Musik aus der rumänischen Karpatenregion sind als Zusatzmaterial zum Band online zugänglich (https://boydellandbrewermusic.com/revisiting-the-codex-buranus/). Charles E. Brewer (S. 283–315) sieht die Hs. Bozen, Staatsarchiv, MS 147, die u. a. das Calendarium Wintheri enthält und mit dem Domkapitel in Brixen in Verbindung steht, aufgrund von Seiteneinrichtung, Schrift und Neumennotation nahe verwandt mit dem Codex Buranus und damit als entscheidende Stütze für die Identifizierung von Brixen als dessen Entstehungsort. Michael Stolz (S. 317–350) vergleicht, ohne einen direkten Einfluss anzunehmen, die gemischtsprachigen Gedichte der Carmina Burana mit Charakteristiken andalusischer Dichtungen, der bislang in diesem Zusammenhang nicht beachteten kharjas, die auf ein in klassischem Arabisch abgefasstes Gedicht einen Gedichtschluss in arabischer Umgangssprache oder einem romanischen Dialekt folgen lassen. Thematisch eng verwandt ist der letzte Beitrag von Henry Hope (S. 351–392) gemischtsprachigen Gedichten mit deutscher Schlussstrophe gewidmet, von denen CB 48 (Quod Spiritu David precinuit), CB 151 (Virent prata hiemata) und CB 169 (Hebet sydus leti visus) ausführlich behandelt werden. Ein Nachwort von Gundela Bobeth (S. 392–401), Hss.-Liste (S. 403f.; ohne Seitenverweise!), Literaturverzeichnis (S. 405–442) und Register (S. 443–462) beschließen den Band, der viele der Forschungsansätze, die mit dem Codex Buranus verbunden sind, auf den aktuellen Stand bringt.
B. P.
(Rezensiert von: Bernd Posselt)