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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Gabriel Zeilinger, Verhandelte Stadt. Herrschaft und Gemeinde in der frühen Urbanisierung des Oberelsass vom 12. bis 14. Jahrhundert (Mittelalter-Forschungen 60) Ostfildern 2018, Jan Thorbecke Verlag, 272 S., 1 Karte, ISBN 978-3-7995-4380-4, EUR 40. – Die Studie, 2013 als Habil.-Schrift an der Christian-Albrechts-Univ. Kiel eingereicht, behandelt einige für die Stadtgeschichtsforschung zentrale Fragestellungen: Was unterscheidet die Stadt vom Dorf? Welche Indikatoren zeigen den Übergang von der Dorf- zur Stadtgemeinde an? Welche Faktoren sind entscheidend für die Ausbildung einer städtischen (Bürger-)Kommune? Warum und von wem wurden Städte gegründet? Dies sind nach wie vor aktuelle Fragen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Erforschung von Klein- und Kleinststädten, die die ma. Städtelandschaft weitaus stärker geprägt haben als singulär herausragende Großstädte wie Köln, Lübeck oder Erfurt, die keineswegs den Normalfall darstellten. Kleinstädte stehen daher auch im Zentrum der Untersuchung, deren Gegenstand das Oberelsass darstellt. Dieser Raum weist neben einer hohen Dichte an Städten und Stadtformen (ohne dominierende Zentralorte wie Straßburg) zudem einen hohen Grad an Dynamik hinsichtlich verschiedener Stadtentwicklungen und der daran beteiligten Akteure auf, überlagerten sich doch hier herrschaftspolitische Interessen der Staufer und Habsburger, der Bischöfe von Straßburg sowie des lokalen Adels. Auf Grundlage einer recht guten, zum größten Teil bereits in gedruckter Form vorliegenden Überlieferung nimmt Z. insbesondere die Interaktionen zwischen Stadtherrschaft und Stadtgemeinde in den Blick. Damit sind Aushandlungsprozesse gemeint, die die für eine Stadt konstitutiven Institutionen betrafen, aber auch Formen der Fremd- und Selbstwahrnehmung und -benennung (welche Begriffe werden in den Quellen für die Bezeichnung einer „Stadt“, einer Kommune genutzt?), Zeichen und Symbole (Siegel, performative Akte) sowie die soziale Zusammensetzung der mit der Herrschaft in Interaktion tretenden Akteure (zumeist Ministeriale bzw. Klientel der Stadtherren). Durch diesen Ansatz gelingt es Z., allzu starre Stufenmodelle und Narrative der Stadtentwicklung aufzubrechen und stattdessen die dynamischen, z. T. parallelen, z. T. sogar gegenläufigen Urbanisierungsprozesse sichtbar zu machen. Freilich bleibt der durchgängig benutzte Begriff der „Urbanisierung“ recht schemenhaft, da der Vf. eine klare Definition vermeidet. Der Hinweis, dass Urbanisierung etwa auch die Ausübung urbaner bzw. städtischer Praktiken des öffentlichen und privaten Lebens (S. 179) und eine ansteigende Dichte von Rechts-, Verwaltungs- und Schriftlichkeitspraxis bedeute (S. 201), ist in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Vielmehr versteht Z. unter „Urbanisierung“ offenbar zweierlei, zum einen die Akkumulation bzw. Konzentration bestimmter Kriterien städtischer Qualität (Markt, Stadtmauer, Pfarrkirche, Stadtrecht, Stadtrat etc.) an einem Ort, sich dabei an den einschlägigen Forschungen von Franz Irsigler, Monika Eschner-Apsner und Frank G. Hirschmann orientierend. Zum anderen bezeichnet „Urbanisierung“ ihm die „Durchdringung der Landschaft mit Zentralorten von urbaner Qualität“ (S. 34), also eine signifikante Verdichtung des Städtewesens im Raum. Man könnte somit statt von einem „dynamischen Urbanisierungsbegriff“ (S. 44) auch klassisch von Stadtwerdungsprozessen sprechen, die hier untersucht werden. Nach einer knappen Einleitung (S. 15–18) bettet Z. seine Arbeit ausführlich in die Forschungsgeschichte und aktuelle Forschungsdiskussion ein (S. 19–49), bevor der methodische Ansatz und Aufbau umrissen werden (S. 49–54). In mehr oder weniger ausführlichen Einzelfallstudien werden die (staufischen) Städte Schlettstadt, Colmar, Mühlhausen und Kaysersberg (S. 55–128), die bischöflichen Städte Rufach, Egisheim und Sulz (S. 129–148) sowie die habsburgischen Gemeinden Ensisheim, Landser und Bergheim (S. 149–168) untersucht. Der stringente Aufbau der einzelnen Kapitel, die zunächst knapp die Entwicklungsgeschichte des jeweiligen Ortes umreißen, anschließend die relevanten Dokumente vor und nach 1250 behandeln sowie zusammenfassend nach „Interaktion und Urbanität“ fragen, also die in den Quellen sichtbar werdenden Dynamiken der Urbanisierungsprozesse herausarbeiten, ist unabdingbare Voraussetzung für die Vergleichbarkeit der doch recht disparaten Stadtformen des Untersuchungsgebiets. Denn als weitere Vergleichsbeispiele kommen Rappoltsweiler und Gemar im Besitz der Herren von Rappoltsheim (S. 169–180) sowie das stark umkämpfte, dem Abt von St. Gregor zu Münster unterstehende Türkheim (S. 181–189) hinzu. Neben Gemar zeigen gerade die im letzten Kapitel untersuchten Ammerschweier und Zellenberg (S. 191–195) die Schwierigkeiten der genauen Abgrenzung von Dorf und Stadt. Ein knappes Schlusskapitel (S. 197–202) fasst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammen, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 204–262) und ein pragmatisch gehaltenes Orts- und Personenregister (S. 263–270) beschließen den Band. Die kompakte Studie kann durch ihren fokussierten und stringenten Ansatz wesentliche Leitlinien der Stadtentstehung und Stadtentwicklung herausarbeiten, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Eine gezielte (planmäßige) herrschaftliche „Städtepolitik“ hat es nicht gegeben, vielmehr vollzog sich die „Urbanisierung“ einzelner Orte und Gemeinden situativ, abhängig von sich ergebenden Möglichkeiten, bestehenden Restriktionen und zumal nicht singulär, sondern in einem übergeordneten räumlichen Beziehungsgefüge. Eine entscheidende Rolle bei den behandelten Stadtwerdungsprozessen spielten wie andernorts die „Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde“ (S. 198), nämlich Vögte, Schaffner, Schultheißen etc. Denn wesentlich für die „Urbanisierung“ waren nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Stadtherren, sondern auch jene der Herrschaftsvertreter, Ministerialen und frühstädtischen Eliten, die in kommunikativen Netzwerken miteinander verbunden waren. Ganz besonders herauszustreichen ist der Befund, dass die Kristallisationspunkte der Stadtwerdung bzw. Kommunebildung im wesentlichen Pfarrkirche und Allmende waren, trugen doch gerade Interaktionen, die jene Institutionen betrafen, zur Ausbildung einer durch Eid miteinander verbundenen Genossenschaft bei. Gerade in den Aushandlungsprozessen und Interaktionen zwischen Herrschaft und Gemeinde, etwa auch um den Bau der Stadtmauer, kann Z. die Prozesse der Kommunebildung sichtbar machen. Die wechselseitigen Interaktionen erweisen sich dabei oft als wirkmächtiger als die eigentlich verhandelten Gegenstände. „Urbanisierung“ tritt uns somit als sukzessiv verdichteter Kommunikationsprozess entgegen, der entsprechenden Niederschlag in einschlägigem Rechts- und Verwaltungsschriftgut gefunden hat. Zu Recht betont Z. daher abschließend mit Isidor von Sevilla, dass Menschen, und nicht Steine, eine Stadt ausmachen.

Alexander Sembdner

(Rezensiert von: Alexander Sembdner)