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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Myroslav Voloshchuk, Ruthenians (the Rus’) in the Kingdom of Hungary, 11th to Mid-14th Centuries. Settlement, Property, and Socio-Political Role, translated by Yaroslav Prykhodko (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 76) Leiden / Boston 2021, X u. 347 S., ISBN 978-90-04-34255-2, EUR 165. – Das Buch ist die englischsprachige und leicht gekürzte Fassung einer 2014 in ukrainischer Sprache erschienenen Monographie. Der in Ivanov-Frankivsk als Hochschullehrer tätige Vf. widmet sich den Fragen, wie und wann elitäre Gruppen der Rus’ (Halitsch-Wolhynien) im Königreich Ungarn auftauchten und wie sich ihre Beziehungen zu den ungarischen Königen von Béla III. (1172–1196) bis Andreas II. (1205–1235) gestalteten. Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel. Im ersten wird der Forschungsstand zum Thema vorgestellt. Hier findet man außer den Forschungsergebnissen von russischen, ukrainischen, slowakischen, polnischen und ungarischen Gelehrten auch die Ansichten bulgarischer und serbischer Historiker behandelt. Daneben erhält man eine Einführung in die Kontroversen um den Begriff der Rus’ und ihre Kontinuität. Hierbei wird vor allem die russisch-ukrainische Dichotomie erörtert. Besonderer Wert wird auf die Begriffe für die Gruppen gelegt, die die Hauptrolle im Buch spielen. Um sie von den Russen zu unterscheiden, werden vom Vf. die Termini Ruthenen bzw. Rus’ verwendet. Im zweiten großen Kapitel werden die Forschungsansichten zum Auftauchen dieser Gruppen in Ungarn vorgestellt. Hierbei unterscheidet man zwischen zwei Hypothesen: Nach der ersten waren die Rus’ oder Ruthenen bereits zur Zeit der Landnahme des ungarischen Stammesverbands (um 895) anwesend, während sie laut der anderen Theorie erst zu Beginn des 12. Jh. unter der Herrschaft von Koloman dem Buchkundigen (1095–1116) im Rahmen spontaner Migration im Königreich Ungarn erschienen. Der Vf. nimmt keine eindeutige Stellung zwischen den zwei Forschungsansichten ein, weist aber auf die Unsicherheit jener Theorien hin, nach denen sich die als Rus’ zu bezeichnenden Gruppen bereits im 9. Jh. im Karpatenbecken aufgehalten hätten. Das dritte Kapitel ist den Biographien der Personen gewidmet, für die eine Zusammenarbeit mit den ungarischen Königen und Herzögen (Andreas II., Herzog Koloman von Halitsch-Wolhynien) in den ersten Jahrzehnten des 13. Jh. nachweisbar ist. Den interessantesten und zugleich zweifelhaftesten Teil des Buchs stellt das vierte Kapitel dar. Hier wird nämlich der Versuch gemacht, die in den Quellen als Ruthenen oder Rus’ bezeichneten Personen zu identifizieren. Eines der Hauptargumente des Vf. ist hierbei der in den Urkunden bei manchen Personen auftauchende Beiname Orrus. Das Wort gehört zu den ungarischen Termini in den lateinischen Urkunden. Da der Wortstamm Ähnlichkeit mit dem ungarischen Wort orosz (Russe) aufweist, geht V. davon aus, dass dieser Beiname auf familiäre Traditionen zurückzuführen sei und auf die Herkunft des Ahnen einzelner Familien hinweise. Diese Theorie ist jedoch sowohl mit sprachwissenschaftlichen als auch mit historischen und onomastischen Argumenten zu widerlegen. Es handelt sich um Beinamen (z. B. Nikaloaus dictus Orrus/Orros) und nicht um Namen. Liest man die in den Urkunden der späten Arpaden- und der Angevinenzeit auftauchenden Namen, ist einerseits festzustellen, dass man nur Vornamen findet; die Identifizierung erfolgte mit dem Namen des Vaters oder Großvaters. Wollte man unbedingt auf die Herkunft von jemandem hinweisen, benutzte man die geographische Verortung mit de (z. B. Nikolaus de Polonia). Beinamen verwendete man ausschließlich zur Unterscheidung von Personen gleichen Vornamens, um die in den manchmal sehr langen Aufzählungen der Arengen und Narrationen der Urkunden vorkommenden Parteien und Personen besser auszuweisen. Darüber hinaus ist die Gleichsetzung von Orros mit orosz/rusz auch aus sprachgeschichtlichen und phonetischen Gründen unmöglich; hinter dem Wort verbirgt sich die urungarische Wurzel des Nomens orr (Nase). Im fünften Kapitel beschäftigt sich der Vf. mit drei Karrieregeschichten (Sudislav de genere Ludan, Petrus filius Petene und Comes Dechk). Das Werk gehört zu den Schriften, die die Wurzeln einer ukrainischen Identität im MA suchen. V. versucht dies anhand der Existenz und Aktivität ethnischer Gruppen im Ungarn der späten Arpaden nachzuweisen. Dadurch ist das Buch eine gute Ergänzung zu den Schriften von Márta Font, die die Beziehungen zwischen den Rurikiden und den Arpaden aus verschiedenen Gesichtspunkten unter die Lupe nimmt, und bietet einen neuen Ansatz zu den zahlreichen identitätsstiftenden Elementen, aus denen in der Neuzeit die ukrainische Nation geboren wurde. In der Denkweise des Vf. spielt allerdings die Ethnizität und die ethnische Absonderung im MA eine zu große Rolle, und es wird viel weniger Wert auf die gruppenbildenden Elemente der ma. Gesellschaften gelegt, wie z. B. das Dienstverhältnis, das zwischen den ungarischen Herrschern und ihren Leuten zustandekam und das die ethnische Herkunft nicht berücksichtigte. Dies gilt besonders für die vom Vf. als Rus’ nachgewiesenen Personen, die im Königreich Ungarn, also in der abendländischen Kirche, in den kirchlichen Dienst getreten sein sollen. Hier spielte sicherlich nicht ihre Herkunft eine entscheidende Rolle, viel eher eine der zahlreichen Kategorien von Treue, die in der ma. Gesellschaft das bindende Element bildete.

Dániel Bagi

(Rezensiert von: Dániel Bagi)