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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Manuscripts in the Anglo-Saxon Kingdoms. Cultures and Connections, ed. by Claire Breay / Joanna Story / Eleanor Jackson, Dublin 2021, Four Courts Press, XVII u. 242 S., Abb., Diagramme, ISBN 978-1-84682-866-9, EUR 65. – Der Band versammelt die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im Dezember 2018 in der British Library in London ergänzend zur dortigen aufsehenerregenden, über fünf Jahre hinweg vorbereiteten Ausstellung „Anglo-Saxon kingdoms: art, word, war“ stattfand. – Dáibhí Ó Cróinín, The original Lindisfarne gospels? (S. 1–15), plädiert vor allem aufgrund irischer Eigenheiten in der Orthographie der zwölf erhaltenen Folia einer der frühesten mit Buchschmuck versehenen insularen Evangelien-Hss. (Durham, Cathedral Library, MS A II 10) für eine Frühdatierung des Codex um 630 und für Iona als Entstehungsort. – Bernard Meehan, The Royal-Otho-Corpus / Cambridge-London / Parker-Cotton-Wolsey Gospels (S. 16–27), gelangt wie der Großteil der bisherigen Forschung zu keiner eindeutigen Antwort auf die Frage, ob die drei separat und fragmentarisch überlieferten Teile eines Evangeliars (London, British Library, Cotton MS Otho C V, und Royal MS 7 C XII fol. 2 und 3, sowie Cambridge, Corpus Christi College, MS 197B) tatsächlich von Anfang an zu einer einzigen Hs. gehörten. – Richard Gameson, Writing at Wearmouth-Jarrow (S. 28–44), sieht in Oxford, Bodleiana, MS Bodley 819 (Beda, In Proverbia Salomonis), mit seiner Verwendung von Unziale und insularer Minuskel den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum man sich im Skriptorium des northumbrischen Doppelklosters zunehmend der insularen Minuskel bediente, und ortet die Ursache weniger in den von der bisherigen Forschung favorisierten ökonomischen Zwängen, die sich aus der zunehmenden Nachfrage nach Abschriften von Bedas Werken ergaben, sondern schlicht in der Praktikabilität der Minuskel, die durch ihren Kontrast zur Unziale insbesondere auch Bibelkommentare besser fassbar habe machen können. – Lawrence Nees, The European context of manuscript illumination in the Anglo-Saxon kingdoms, 600–900 (S. 45–65), geht Bezügen zwischen angelsächsischem und kontinentalem Buchschmuck nach und kommt zu dem Schluss, dass viele Parallelen mangels anderer Erklärungsmodelle wohl am ehesten durch den Transfer von Ideen („migrating ideas“ oder „scribe-talk“, vgl. S. 60 und 50) zu erklären seien. – Joanna Story, Insular manuscripts in Carolingian Francia (S. 66–85), unternimmt einen tour d’horizon mit einer großen Anzahl von Beispielen, die deutlich machen, wie spekulativ viele Annahmen bleiben müssen. – Rosamond McKitterick, Anglo-Saxon links with Rome and the Franks in the light of the Würzburg book-list (S. 86–97), untersucht erneut die schon oft diskutierte Würzburger Bücherliste in Oxford, Bodleiana, MS Laud Misc. 126, und zieht aus ihr den Schluss, dass die Würzburger Bischöfe von Beginn an sehr gut in die fränkische Kirche integriert gewesen seien und Würzburg keinesfalls als insulare Enklave am Rand des fränkischen Reichs angesehen werden könne. – David F. Johnson, The transmission and reception of Alfredian ‘Apocrypha’ (S. 98–107), untersucht die Eingriffe vor allem in Orthographie und Interpunktion, die eine – vom Vf. als Tiberius Interventionist bezeichnete – spätere Hand in London, British Library, Cotton Tiberius B I (einer Sammelhs. aus dem 11. Jh. mit dem altenglischen Orosius und weiteren „Alfrediana“) insbesondere im Orosius vornahm, und deutet sie vorsichtig als Versuch, den Text besser lesbar zu machen, jedenfalls aber als Zeugnis des noch immer vorhandenen Interesses an den „Alfrediana“. – Teresa Webber, The lector and lectio in Anglo-Saxon England (S. 108–118), geht vor allem anhand von einschlägigen Hss. wie Pontifikalien sowie dort eingetragenen Marginalien der Frage nach, wer im angelsächsischen England mit der lectio publica in und außerhalb der Liturgie beauftragt wurde und welche Voraussetzungen diese Personen mitbringen sollten. – Simon Keynes, The ‘Canterbury letter-book’: Alcuin and after (S. 119–140), versucht, die Genese der wohl um 1000 von einer Hand in Canterbury kopierten Briefsammlung London, British Library, Cotton Tiberius A XV zu rekonstruieren, die eine wahrscheinlich in drei Vorstufen entstandene Zusammenstellung von Briefen Alkuins („Alcuin 1–3“) und im vierten Teil ausschließlich mit Canterbury in Beziehung stehende Briefe bis ans Ende des 10. Jh. enthält, und gibt als Appendix ein Verzeichnis der Canterbury-Briefe mit kurzen Angaben zu Inhalt, Parallelüberlieferungen und vorliegenden Editionen bei. – Jonathan Wilcox, The Wolf at work: uncovering Wulfstan’s compositional method (S. 141–153), verfolgt anhand der schon von Neil Ker identifizierten, in mehreren Hss. erhaltenen Marginalien, Korrekturen und Notizen, wie der Erzbischof von York immer wieder durch sehr detaillierte Änderungen an seinem Œuvre feilte, und kann durch Multispektralaufnahmen von zwei Blättern in der Fragmentesammlung London, British Library, Add. 38651 (fol. 57 und 58), noch weitere, bisher nicht lesbare Entwürfe Wulfstans für die Untersuchung beisteuern. – Winfried Rudolf, On the Italian provenance of the Vercelli Book (S. 154–167), diskutiert die in der Literatur schon wiederholt aufgeworfene Frage, wann und auf welchem Wege die bekannte altenglische Hs. nach Vercelli gelangte, und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um ein Geschenk eines nach Rom reisenden Erzbischofs von Canterbury für Bischof Leo von Vercelli gehandelt haben dürfte. – Francesca Tinti, Anglo-Saxon travellers and their books (S. 168–177), erörtert anhand von Codices aus dem angelsächsischen England, die nachweislich auf (kurze oder längere) Reisen (vgl. das Vercelli Book) mitgenommen wurden, sowie von einschlägigen Passagen aus literarischen Quellen die Frage, welche Büchertypen für solche Reisen in Frage kamen und welchem Zweck sie dabei dienten. – Susan Rankin, A Fleury model for singing at Winchester (S. 178–187), zeigt, dass die Zweitstimmennotation zu Commovisti Domine im Winchester Troper (Cambridge, Corpus Christi College, MS 473) zweifellos von der in Orléans, Bibl. municipale, MS 72, in der zweiten Hälfte des 10. Jh. in Fleury eingetragenen Notation beeinflusst wurde, womit nunmehr auch im musikalischen Bereich Verbindungen zwischen Winchester und Fleury nachgewiesen werden können. – Michael Gullick, Fragments of some Anglo-Saxon service books in Norway and Sweden (S. 188–200), diskutiert anhand von sechs liturgischen Hss., die sich nur in Fragmenten in Archiven in Schweden und Norwegen erhalten haben, die schwierige Frage, ob diese Codices tatsächlich im angelsächsischen England oder doch unter angelsächsischem Einfluss in Skandinavien geschrieben worden sind, muss das Ergebnis in mehreren Fällen offen lassen und gibt in der Appendix eine Liste von acht Fragmenten aus den genannten beiden Ländern bei, die im Verzeichnis der „Anglo-Saxon Manuscripts“ von Gneuss und Lapidge fehlen. Der für alle an (nicht nur angelsächsischer) ma. Schriftkultur Interessierte höchst lesenswerte Band wird erfreulicherweise auch durch ein Hss.-Register erschlossen.

M. W.

(Rezensiert von: Martin Wagendorfer)