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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Christina Jackel, Die Bibliothek lesen. Funktion und Dynamik des deutschsprachigen mittelalterlichen Textbestands im Stift Kremsmünster (Philologica germanica 40) Wien 2021, Fassbaender, IX u. 417 S., Abb., ISBN 978-3-902575-90-6, EUR 49,50. – Die 2018 an der Univ. Wien angenommene und für die Druckfassung überarbeitete Diss. untersucht erstmals anhand von Bücherlisten wie Textzeugen (herangezogen werden ca. 115 Hss. oder deren Fragmente, die sich vermutlich im MA in Kremsmünster befanden) den ma. Bestand deutschsprachiger Texte im 777 gegründeten Benediktinerstift Kremsmünster (heute Oberösterreich) und seine Entwicklung. Zu diesem Zweck legt die Vf. nach einer Einleitung (Kapitel 1) zur Methodik der Erforschung ma. Bibliotheken und ihrer Eigenheiten in den Kapiteln 2–5 vier „Zeitschnitte“ an (um 1200, um 1325, um 1440 und um 1530), die mit einem kurzen Überblick zur Stiftsgeschichte in der jeweiligen Periode eingeleitet werden, dann folgen jeweils ein Überblick über die damals (wahrscheinlich) vorhandenen deutschen Texte, die Beschreibungen der Textträger (die sich zu einem Teil auf die schon vorliegenden beiden ausgezeichneten Katalogbände von Hauke Fill von 1984 und 2000 stützen können; eingehender beschrieben wird von der Vf. jeweils nur jene kodikologische Einheit, in welcher sich die deutschen Texte befinden) und die Auswertung des Bestands im jeweiligen „Zeitschnitt“. In der Zusammenschau im abschließenden Kapitel 6 („Die Bibliothek als Text“) wird versucht, mit einem sogenannten „Kern-Sphären-Modell“ dem Umgang mit den deutschsprachigen Texten in Kremsmünster insofern näherzukommen, als untersucht (oder, angesichts der prekären Quellenlage, teils eher spekuliert) wird, welche Texte zu welcher Zeit einem „Kernbestand“ zuzurechnen sind, dem man im Stift großes Interesse entgegenbrachte, und welche eher in den „Sphären“ am Rand des Interesses anzusiedeln sind (z. B., weil sie teils ungewollt als Legate etc. in die Bibliothek kamen). Es muss hier nicht eigens festgehalten werden, dass man sich bei Studien solcher Art mit relativ schmaler Quellenbasis, vor allem für die Frühzeit der Bibliothek, auf sehr dünnem Eis bewegt, zumal das Kloster selbst keinen monolithischen Block darstellt, sondern aus Mönchen besteht, also aus verschiedenen Individuen mit verschiedenen Interessen, die sehr schwer fassbar sind, worauf die Vf. auch mehrfach hinweist; noch deutlicher hätte man vielleicht machen können, dass das Fehlen von Benützerspuren in ma. Hss. nicht zwingend auf Desinteresse hindeuten muss (nicht jeder Leser liest mit der Feder in der Hand). Nach der Lektüre drängt sich vor allem eine Erkenntnis auf: Dringend notwendig wäre es, die Fertigstellung des von Hauke Fill nun vor beinahe fast 40 Jahren in vorbildlicher Weise begonnenen Katalogs der ma. Kremsmünsterer Hss. zu besorgen und die Tiefenerschließung der noch nicht beschriebenen Bände vorzulegen – dann hätte sich auch die Vf. sehr viel Mühe ersparen können und möglicherweise auch festeren methodischen Boden unter den Füßen gehabt.

M. W.

(Rezensiert von: Martin Wagendorfer)