Étienne Doublier / Daniela Schulz / Dominik Trump (Hg.), Die Historischen Grundwissenschaften heute. Tradition – Methodische Vielfalt – Neuorientierung, Wien / Köln / Weimar 2021, Böhlau Verlag, 223 S., Abb., ISBN 978-3-412-52064-9, EUR 49. – Die hier versammelten Beiträge gehen zum überwiegenden Teil auf die im März 2019 in Wuppertal veranstaltete 5. Jahrestagung des „Netzwerks Historische Grundwissenschaften“ zum Thema „Ad limina. Die Historischen Grundwissenschaften im Spannungsfeld zwischen Interdisziplinarität und Profilierung“ zurück. Tobias P. Jansen, Die Anfänge urkundlicher Tätigkeit der Bischöfe von Verden (11. und 12. Jahrhundert). Am Rande des Interpretierbaren?! (S. 29–47), sieht in der Weiterentwicklung des Kanons der Historischen Grundwissenschaften und vor allem in der Erweiterung um naturwissenschaftliche Methoden, also in interdisziplinärer Zusammenarbeit, die beste Chance, die im frühen und hohen MA aufgrund der oft sehr überschaubaren Quellencorpora bestehenden Grenzen der Auswertung zu überwinden. – Dominik Leyendecker, Byzantinische Administration im frühmittelalterlichen Dalmatien. Quellen und Befunde für das 8. und 9. Jahrhundert (S. 49–72), zeigt, wie man mit grundwissenschaftlichen Methoden (Auswertung von Siegeln, Münzen, Inschriften) zu Erkenntnissen über die Existenz byzantinischer Verwaltung (Archontat, Thema) in peripheren Gebieten wie Dalmatien kommen kann. – Michael Hecht, Genealogie zwischen Grundwissenschaft, populärer Praxis und Forschungsgegenstand: interdisziplinäre Perspektiven (S. 73–93), tritt für ein breites Konzept der Genealogie ein, um deren Marginalisierung entgegenzuwirken, und wünscht sich zu diesem Zweck eine Historisierung der Genealogie als Praxis, die Betrachtung genealogischer „Medien und Medialisierungen“ (S. 87) sowie eine Beschäftigung mit den Vertretern der populären Genealogie. – Pierre Smolarski / René Smolarski, Wissenschaftliches Stiefkind und amateurhafte Liebhaberei. Ein designrhetorischer Zugang zur Philatelie als historischer Grundwissenschaft (S. 95–119), plädieren für die Aufnahme der Philatelie im weiteren Sinne (also auch unter Einbeziehung von Quellen im Umkreis der Briefmarken wie Entwürfe, Poststempel, Ganzsachen etc.) in den Kanon der Historischen Hilfswissenschaften und skizzieren Auswertungsmöglichkeiten der Quellen. – Manfred Thaller, Kennen wir die Vergangenheit? Oder: Verflacht die IT die Beziehungen zwischen HistorikerInnen und ihren Quellen oder vertieft sie sie? (S. 121–137), kann keinen methodischen Gegensatz zwischen den Historischen Grundwissenschaften und den Digital Humanities (DH) erkennen, sieht diesen vielmehr zur allgemeinen historischen Forschung, die nicht mehr an einer Auseinandersetzung mit den Quellen interessiert sei, und plädiert – offenbar in der Annahme, die Historischen Grundwissenschaften beschäftigten sich nur mit dem MA und einzelnen Dokumenten – für eine Ausweitung des Blicks derselben auf andere Epochen und große Quellencorpora. – Alina Ostrowski, Automatische Erkennung und Klassifikation von Formularbestandteilen in Königsurkunden. Zur Aufbereitung digitaler Urkundenkorpora in der Mediävistik (S. 139–166), schildert ihre Erfahrungen bei dem Versuch, 83 Königsurkunden aus der Zeit Ottos I. bis Ottos IV. auf dem Portal monasterium.net computergestützt in Formularbestandteile zu zerlegen, was ohne erheblichen Aufwand nur möglich ist, wenn auch tatsächlich die Volltexte verfügbar sind (was auf monasterium.net in der Regel nicht der Fall ist), und sieht die Anwendungsszenarien vor allem bei Schülern, die so in die Diplomatik eingeführt werden könnten, und in der Auswertung großer digitaler Corpora (die aber eben zumindest derzeit nicht vorhanden sind). – Hendrik Baumbach, Quantitative Erforschung großer Urkundenkorpora. Gütekriterien für die praktische Arbeit (S. 167–195), definiert insgesamt 21 Punkte (wie etwa Homogenität der quantifizierbaren Merkmale, ausreichende Größe des Quellencorpus usw.) für die quantitative Auswertung von Urkundencorpora. – Clemens Rehm, Ein ‘Masterplan’ für die Grundwissenschaften. Module – Kooperationen – Vernetzungen (S. 197–218), macht im Titel nicht deutlich, dass der hier entworfene Masterplan, der u. a. vorschlägt, Studierende in Volkshochschulkursen an hilfswissenschaftliche Disziplinen heranzuführen, ausschließlich aus archivarischer Sicht (nicht alle für die Hilfswissenschaften relevanten Quellen befinden sich bekanntlich im Archiv) konzipiert ist, und beklagt zu Recht, dass die an den Universitäten immer mehr zurückgefahrene Ausbildung in den Hilfswissenschaften nicht durch Archivpersonal kompensiert werden könne. Ob allerdings, wie vom Vf. prophezeit (S. 198), die digitale Welt sich „als belebende Bluttransfusion für die Hilfswissenschaften“ erweisen und diese „als Grundwissenschaften in neuem Glanz selbstbewusst erstehen“ lassen wird (oder ob nicht das genaue Gegenteil eintritt, wie man in der universitären Lehre derzeit feststellen kann, in der Studierenden immer mehr weisgemacht wird, dass man durch die DH hilfswissenschaftliche Kompetenzen ersetzen könne), wird sich noch weisen. – Was die Gründe für die Marginalisierung der Hilfswissenschaften in den letzten Jahrzehnten sind, darüber kann man trefflich streiten, und nicht jeder wird der Meinung der Hg. (Die Historischen Grundwissenschaften zwischen Tradition und Neuorientierung. Eine Einleitung, S. 9–27, hier S. 16) zustimmen, die „Kanonisierung“ bestimmter hilfswissenschaftlicher Disziplinen habe „den Eindruck eines statischen, unzeitgemäßen und veralteten Faches innerhalb der Geschichtswissenschaften und darüber hinaus erweckt“, und „seine noble Abstammung und teilweise elitäre Selbstrepräsentation“ seien, zugespitzt gesagt, „dem Fach unter geänderten Rahmenbedingungen zum Verhängnis geworden.“ In der universitären Lehre Tätige würden hier vielleicht eher an das massive Nachlassen von Latein- oder überhaupt historischen Grundkenntnissen bei den Studierenden denken, das eine Vermittlung von paläographischen und diplomatischen Fähigkeiten zunehmend erschwert. Auffallend ist jedenfalls, dass auch die Tradition des eigenen Fachs zunehmend in Vergessenheit zu geraten scheint, was immer ein alarmierendes Zeichen ist. Bei der Reflexion über die Geschichte der Hilfswissenschaften in der Einleitung wird zwar die Einrichtung von (vereinzelten) einschlägigen W1-Professuren, deren Dauerhaftigkeit sich noch erweisen muss, und von einzelnen bewilligten Editionsprojekten als Indiz für einen kommenden Aufschwung gesehen, aber mit keinem Wort werden jene Institutionen erwähnt, die schon seit Jahrhunderten oder Jahrzehnten massive Säulen der Hilfswissenschaften darstellen und gerade deshalb mit ihren Leistungen auch als Legitimation dienen könnten: etwa die MGH, die Reg. Imp. oder Akademieprojekte wie das Deutsche Inschriftenwerk (allenfalls in anderem Zusammenhang, wie etwa bei den Summerschools der MGH, die definitiv keinen Kernbereich der Monumenta darstellen; da dem Band leider kein Register beigegeben ist, konnte dieser Leseeindruck nicht empirisch untermauert werden, dürfte aber wohl zutreffen). Hingegen scheinen viele Beiträge aufgrund der (in diesem Bereich fraglos vorhandenen) Möglichkeiten der DH, was Massenquellen betrifft, das künftige Heil der Hilfswissenschaften vor allem in der maschinell gestützten Auswertung von seriellen Quellen zu sehen. Man muss allerdings nicht zwingend der in der Einleitung vertretenen Meinung sein, dass die Untersuchungsgegenstände der Hilfswissenschaften „tendenziell serielle Charakteristika“ aufweisen (S. 20). Ganz im Gegenteil liegt ein Reiz dieser Disziplinen sicher nicht nur, aber auch in der Untersuchung von Einzelobjekten wie Hss. oder Inschriften, für welche die traditionellen Methoden der Hilfswissenschaften immer unentbehrlich bleiben werden.
M. W.
(Rezensiert von: Martin Wagendorfer)