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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Between the Text and the Page. Studies on the Transmission of Medieval Ideas in Honour of Frank T. Coulson, ed. by Harald Anderson / David T. Gura (Papers in Mediaeval Studies 33) Toronto 2020, PIMS Pontifical Institute of Mediaeval Studies, VI u. 369 S., Abb., ISBN 978-0-88844-833-0, USD 95. – Die Festschrift für den Distinguished Professor of Classics an der Ohio State Univ., der vor allem als Kenner der ma. Kommentare zu Ovids Metamorphosen bekannt ist (vgl. Wendy Watkins, Bibliography of Frank T. Coulson, S. 349–353), bietet eine Reihe von Beiträgen von Schülern und Weggefährten, die vor allem um die Überlieferungs- und Textgeschichte kreisen. – Greti Dinkova-Bruun, Textual Networking in the Verse Liber Exameron from Manuscript Barlow 21 (S. 28–39), unternimmt ungeachtet des Titels im Grunde eine klassische (und sehr nützliche und aufschlussreiche) Quellenuntersuchung für das dritte Buch dieser vermutlich aus dem späten 13. Jh. stammenden, nur in der genannten Hs. der Bodleiana und anonym überlieferten, mit zahlreichen Glossen versehenen hexametrischen Dichtung und zweifelt selbst daran, ob die Methode der Netzwerkanalyse hier Sinn ergibt. – Bart Huelsenbeck, The Earliest Fragments of a Latin Declamatory Corpus: The Quintilianic Minor Declamations and the Excerpta of the Elder Seneca (S. 40–65), kann aufgrund paläographischer und kodikologischer Beobachtungen plausibel machen, dass zwei in Form mehrerer Folia überlieferte Fragmente mit den besagten Texten (Bamberg, Staatsbibl., Msc. Class. 45m, sowie Leuven, KU Leuven Bibl., Maurits Sabbebibl., PM0001) aus ein und derselben Hs. (wohl des ersten Viertels des 9. Jh.) stammen, woraus der Vf. u. a. mit Blick auf Montpellier, Bibl. interuniversitaire, Section Médecine, H 126, die neben den genannten Autoren auch noch Calpurnius Flaccus enthält, den Schluss zieht, dass schon in der Spätantike ein Corpus mit diesen rhetorischen Texten zusammengestellt wurde, das heute nur mehr in Resten als solches zu greifen ist. – David Defries, Signa, Res, et Memoria: Ordering the Virtues of Saints in Boulogne, Bibliothèque municipale, Ms. 107 (S. 66–86), identifiziert die in der bisherigen Literatur unterschiedlich gedeuteten Figuren auf fol. 6v der in Saint-Bertin unter Abt Odbert (986–1007) angelegten Hs. als Bertin, Folcuin und Silvin und sieht auch im gesamten Aufbau der Hs. die Tendenz, in einer Art Heiligen-Hierarchie den heiligen Bertin als wichtigsten und alleinigen Patron des Klosters zu etablieren, was eine Folge der Mitte des 10. Jh. durchgeführten Reform gewesen sein könnte, die mit einer Trennung der Kanoniker (Saint-Omer) und Mönche (Saint-Bertin) in Sithiu einherging. – Robert G. Babcock, The Scribal Verses of Waltherius in a Twelfth-Century Manuscript of Josephus (S. 87–107), druckt erstmals das in New Haven, Yale Univ., Beinecke Library, MS 282 (Flavius Josephus, De bello Iudaico, in der lateinischen Übersetzung Rufins, 12. Jh.), enthaltene versifizierte Kolophon vollständig ab und hält aus inhaltlichen wie paläographischen Gründen den hier genannten Kopisten Waltherius nicht nur für den Schreiber und Rubrikator, sondern möglicherweise auch für den Verantwortlichen für die Gesamtausstattung und -anlage der Hs. – Robin Wahlsten Böckerman, The Raven and the Crow: An Ovidian Hermeneutical Node (S. 108–131), untersucht die ältesten Kommentare zu Ovids Metamorphosen von Anfang bis Ende des 12. Jh. gezielt in Hinsicht auf eine ausgewählte, in textkritischer Hinsicht nicht ganz einfache Passage (Met. 2, 562–571), die ungewöhnlicherweise von all diesen Kommentaren unter demselben Aspekt behandelt wird, und zeigt, wie schwierig es ist, konkrete Abhängigkeitsverhältnisse nachzuweisen. – Harald Anderson, On the Frequency of Ancilia in Medieval Manuscripts (S. 132–145), gibt eine überwiegend aus Tabellen bestehende Übersicht über die von ihm als ancilia bezeichneten Begleittexte (wie Accessus, Marginalien, Viten etc.) in Hss. mit (was der Titel nicht erahnen lässt) Werken des Statius, ohne daraus Schlüsse auf die Statius-Rezeption zu ziehen. – Julia Haig Gaisser, Tibullus in the Roman Academy (S. 146–164), untersucht drei Tibull-Texte aus dem engeren Umfeld der römischen Akademie Pomponio Letos (Rom, Bibl. Casanatense, Cod. 15, eine von Leto selbst kopierte Prunk-Hs. für Fabio Mazzatosta; BAV, Ottob. lat. 2857, einen von mehreren Händen kopierten und kommentierten Tibull; sowie den 1475 gedruckten Tibull-Kommentar Berardino Cillenios) und kann nur ein sehr beschränktes, nicht sehr tiefgehendes Interesse innerhalb der Akademie für den Dichter erkennen. – David T. Gura, A Prose Summary of Ovid’s Metamorphoses from Fourteenth-Century Italy: Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ross. 228 (S. 165–207), ediert (mit einigen zweifelhaften editionstechnischen Entscheidungen) erstmals den ausschließlich in der genannten Hs. überlieferten anonymen Text, gibt eine detaillierte Beschreibung der Hs. und kommt nach exemplarischer Quellenauswertung zu dem Schluss, dass es sich hier weniger um eine Zusammenfassung der Metamorphosen handelt, sondern vielmehr um einen in der Tradition der italienischen Genealogiae Deorum stehenden Text, der wohl für den Lehrbetrieb diente. – Marjorie Curry Woods, Manuscript War Stories Aren’t What They Used to Be (S. 225–228), schildert in einem Essay mehr oder weniger amüsante Episoden, die sie auf ihren Hss.-Reisen in Europa erlebt hat. – Wilken Engelbrecht, Dirc Potter, the „Dutch Ovid“ and His Der minnen loep (The Course of Love) (S. 229–254), gibt eine ausführliche Paraphrase dieses im frühen 15. Jh. entstandenen Werks, geht den Quellen Potters (v. a. Ovid, aber auch Boccaccio) nach und plädiert für eine Aufwertung des Autors, der durchaus mit Geoffrey Chaucer vergleichbar sei. – Scott Gwara, Je me souviens: The Forgotten Collection of Medieval and Renaissance Manuscripts Owned by Gerald E. Hart of Montreal (S. 255–288), rekonstruiert auf Basis des Katalogs einer Bostoner Auktion, in deren Rahmen die Bibliothek Harts 1890 versteigert wurde, die Hss.-Sammlung des kanadischen Geschäftsmanns und kann von den dort genannten 22 Hss. noch zehn in diversen amerikanischen und europäischen Bibliotheken identifizieren. – Gregory Hays, Medieval Manuscripts at the University of Virginia (S. 289–348), gibt eine 63 Nummern umfassende (und angesichts des Fehlens eines gedruckten Katalogs überaus nützliche) „Handlist“ mit Kurzbeschreibungen der ma. Hss. aus dem Besitz der Univ. of Virginia (unter Nr. 63 findet sich die sog. Rosenthal-Collection mit einer dreistelligen Anzahl von Fragmenten) und geht davor auf die diversen Sammler ein, auf deren Schenkungen der heutige Bestand zu einem großen Teil zurückgeht.

M. W.

(Rezensiert von: Martin Wagendorfer)