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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa (1400–1700). Kommunikative Praktiken und Verfahren in gemischtsprachigen Städten und Verbänden, hg. von Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kersken (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung 37) Marburg 2020, Verlag Herder Institut, 245 S., ISBN 978-3-87969-435-8, EUR 45. – Mehrsprachigkeit als nicht nur gegenwärtig präsentes, sondern auch historisches Phänomen hat in der kulturgeschichtlichen Forschung der letzten Jahr(zehnt)e zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Verstärkt rückten interdisziplinäre Möglichkeiten zur Erforschung historischer multilingualer Settings, Sprachpraktiken und ihre Alltagsrelevanz sowie die soziale Bedeutung bzw. politische Instrumentalisierbarkeit von Sprachunterschieden in den Mittelpunkt. Auch dieser Band, dessen Beiträge auf eine Tagung am Marburger Herder-Institut im Jahr 2012 zurückgehen, fügt sich in diese Entwicklung ein. Ausgehend von der Prämisse, dass Mehrsprachigkeit in ostmitteleuropäischen Gesellschaften nicht als Ausnahme, sondern als Regelfall zu behandeln sei, analysieren die Einleitung (Hans-Jürgen Bömelburg / Thomas Daiber, S. 1–24) sowie 13 Fallstudien Beispiele mehrsprachlicher Konstellationen und Praktiken aus dem vormodernen Ostmitteleuropa, namentlich aus Böhmen, Polen sowie Litauen. Das Konzept der Hg. bietet eine gewinnbringende methodische Neuperspektivierung: Mehrsprachigkeit wird als Phänomen verstanden, das individuelle Lebenswelten bestimmt und mithin das Maß an sozialer Partizipation beeinflussen kann, dabei aber nicht von vorneherein ethnische oder nationale Zuordnungen bedingen muss. Zentrale Untersuchungsaspekte (vgl. S. 6f.) sind deshalb Praktiken zum Erwerb und Gebrauch von Sprachen, aber auch zeitgenössisches Sprachbewusstsein, das damit verbundene soziale Kapital im Sinne der „Mitsprache“ sowie das „mediale Prestige“ im Sinne von Wissenszugang und -verarbeitung. Die Fallstudien nehmen unterschiedliche soziale Kontexte und Räume in den Blick: Neben historiographischen Verarbeitungen von Sprachgebrauch werden Mehrsprachigkeit in Städten (v. a. Krakau, Lemberg, Danzig, Posen) sowie größeren Räumen, Medien sowie Techniken zum Spracherwerb sowie Reflexionen von Mehrsprachigkeit untersucht. Besonders begrüßenswert ist, dass Hans-Jürgen Bömelburg (S. 127–144) zum polnischen Wasahof dezidiert auf die Sprachkenntnisse von Frauen eingeht. Der Band konturiert Ostmitteleuropa zwischen 1400 und 1700 als eine bedeutende Austausch- und Verflechtungsregion mit mannigfachen persönlichen und institutionellen Verbindungen; für Leser, die der betreffenden Landessprachen nicht kundig sind, erschließt er in verdienstvoller Weise den jeweils aktuellen Forschungsstand und gibt einen Einblick in die reiche Quellenlage. Der Zugriff auf Mehrsprachigkeit als Alltagspraxis legt offen, dass bei vielen Konflikten religiöse oder soziale Unterschiede ausschlaggebend waren, nicht aber der Sprachgebrauch – ein wichtiger Befund, der zu weiteren Forschungen anregt und einmal mehr das Potential vergleichender Arbeiten offenlegt.

Julia Burkhardt

(Rezensiert von: Julia Burkhardt)