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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Jennifer Bunselmeier, Das Engelhusvokabular. Lexikographie, Diktat und Lateinunterricht im Spätmittelalter (Lexicographica. Series maior 159) Berlin u. a. 2020, De Gruyter, X u. 256 S., Abb., ISBN 978-3-11-064683-2, EUR 99,95. – Die bereits 2018 in Oxford als Diss. angenommene Studie ist im besten Sinne britisch: Sie ist fokussiert, hat kaum eine Seite mehr als den nötigen Umfang und ist ausgesprochen klar gegliedert. Untersucht wird darin ein lateinisch-deutsches Vokabular (mit einigen wenigen griechischen und hebräischen Einsprengseln) des Einbecker Theologen, Chronisten und nicht zuletzt eben auch Lateinschullehrers Dietrich Engelhus (um 1360–1434) mit Blick auf seinen Aufbau und seine Aussagekraft für die Art und Weise, in der im Spät-MA Latein gelernt wurde. Der erste Teil der Arbeit ist der Biographie des Autors, dem (leider bis heute überschaubaren) Forschungsstand und der Überlieferung gewidmet. Dramatisch ist das Schicksal der Engelhus-Hss.: Während fragmentarische Überlieferung (Lüneburg, Zeitz), zeitgenössischer Schwund (Erfurt, nach 1510 verschollen) und Weltkriegsverluste ja allemal erwartbar sein dürften, sind zwei weitere Hss. (Paderborn, Kärnten) erst im späten 20. Jh. gestohlen worden respektive „verschollen“. Von der Kärntner Hs. aus dem Benediktinerstift St. Paul im Lavanttal, bei der es sich wohl um den ältesten Überlieferungsträger (1394) gehandelt haben dürfte, ist wenigstens noch ein Mikrofilm vorhanden. So kann B. Beobachtungen zu Aufbau, Sprache und Nutzerspuren einer großen Bandbreite von Überlieferungsträgern aufnehmen. Beim Engelhus’schen Vokabular handelt es sich um ein Werk, das sich an fortgeschrittene Lateinlernende wandte. Das erklärt auch die gemessen etwa am Vocabularius ex quo (ca. 300 Hss.) überschaubare Überlieferungsdichte und den knappen Überlieferungszeitraum von rund 70 Jahren. Die dialektale Differenzierung, die B. gegenüber der bisherigen Globalzuweisung „niederdeutsch“ vornimmt, kann allerdings überzeugend zeigen, dass das Engelhus’sche Vokabular eine durchaus beachtliche geographische Verbreitung im deutschen Sprachraum fand. Den größten Teil der Studie nimmt eine akribische (meta-)lexikographische und strukturelle Analyse von zwei Wolfenbütteler Hss. des Vokabulars ein. Diese hat die Vf. vollständig transkribiert und deren strukturell relevante Segmente mittels XML kodiert. So werden übergreifende Abfragen und deren quantifizierende Auswertung möglich, etwa nach unterschiedlichen Angabeklassen, Rechtschreibvarianten oder Binnenverweisen. Aus der Fülle dieser Einzelbeobachtungen zieht B. dann überzeugende Schlüsse über die Nutzungskontexte des Wörterbuchs als solchen sowie auch einzelner Hss. Dieser innovative Ansatz, der zugleich im besten Sinne handgreiflich ist und sich auch ohne vertiefte Kenntnisse aus dem Bereich der Digital Humanities nachvollziehen lässt, hat einiges Potenzial für die Adaption in andere Anwendungskontexte. Im dritten und letzten Teil werden einzelne Struktur- und Nutzerspuren näher untersucht, um mögliche Rezeptionskontexte zu plausibilisieren. So kann B. die Wanderung – und damit auch: die sich verändernde Nutzung – einer Hs. von der Hannoveraner Stadtschule in ein Frauenkloster (und schließlich in die Helmstedter Hss.-Sammlung, also mittelbar die Herzog August Bibl. in Wolfenbüttel) nachvollziehen. Mit der ebenfalls Hannoveraner Hs. Landesbibl., Cod. IV 446, schließlich zeigt sie den spannenden Fall einer neuzeitlichen Nutzung des Engelhusvokabulars auf. Dass der Schreiber Johann Georg Eckhart ein Mitarbeiter und späterer Nachfolger von Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen ist, wird erwähnt – welche Konsequenzen sich daraus ergeben, hätte allerdings etwas mehr Raum einnehmen dürfen. Denn tatsächlich sind die großangelegten Abschriftenprojekte im Umfeld von Leibniz ja durchaus nicht unerforscht. Hier bleibt die Arbeit etwas knapp. Bedauerlich bleibt, dass die von Robert Damme seit den 1980er Jahren aufgestellte hypothetische Abfolge von vier unterschiedlichen Fassungen des Vokabulars weiterhin der zukünftigen Forschung anheimgestellt wird. Denn wer wird in baldiger Zukunft ähnlich intime Kenntnisse der Überlieferung erwerben? B. freilich kann man das nicht vorwerfen. Sie bringt nicht nur zu dieser, sondern auch zu anderen bisherigen Hypothesen der Engelhus-Forschung, etwa mit Blick auf den Entstehungskontext, valide neue Argumente bei. Man kann nur hoffen, dass diese solide Grundlagenarbeit tatsächlich ein Fundament für weitere Forschung wird. Das Zeug dazu hätte sie. Und auf die hier und da anklingende Edition des Vokabulars auf der Grundlage der für diese Diss. getätigten Transkriptionen darf man freudig hoffen.

Hiram Kümper

(Rezensiert von: Hiram Kümper)