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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Scintilla de libro legum. Römisches Vulgarrecht unter den Merowingern. Die Fuldaer Epitome der Lex Romana Visigothorum, rekonstruiert, übersetzt und kommentiert von Detlef Liebs, mit einem Beitrag von Gerhard Schmitz (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. N. F. 82, Abt. A: Abhandlungen zum Römischen Recht und zur Antiken Rechtsgeschichte) Berlin 2022, Duncker & Humblot, 468 S., ISBN 978-3-428-18335-7, EUR 99,90. – Das römische Recht war im Frankenreich nicht unbekannt. Durch das Breviar Alarichs II., das in über hundert Hss. überliefert ist, standen sowohl eine große Auswahl von kaiserlichen Konstitutionen aus dem Codex Theodosianus als auch zwei Werke der antiken Rechtsliteratur zur Verfügung. Obwohl Alarich von den Franken in der Schlacht von Vouillé besiegt worden war, diente seine Kodifikation im 6. Jh. als wichtigste Quelle für die Aneignung des römischen Rechts im Reich der Merowinger. Bald entstand aber das Bedürfnis, das Breviar noch einmal zu verkürzen und dadurch leichter erfassbar zu machen. Diese Kurzfassungen sind – wie die hier erstmals edierte Epitome mit dem Titel Scintilla de libro legum – anonyme Überarbeitungen, die erst aus der Karolingerzeit überliefert sind, aber in den meisten Fällen aus der Merowingerzeit stammen. Die Scintilla ist singulär in einer Hs. überliefert, die heute in Fulda liegt (Hochschul- und Landesbibl., D 1) und ursprünglich in der Loire-Gegend Ende des 8. Jh. geschrieben wurde. Das fehlerhafte Latein der Hs. hat dazu beigetragen, dass diese Epitome bislang kaum beachtet wurde. Der Hg. urteilt, dass „den ... Schreibern ... der Sinn des von ihnen geschriebenen Texts weithin gleichgültig“ (S. 22) war. Die Abschreibfehler sind in der Tat haarsträubend: Zum Beispiel wird aus der Anweisung an die Richter, sich nicht kaufen zu lassen (venales non esse audeant), die Bestimmung, Rechtsfälle mit Würde anzuhören (cum veneracione causas audiant, S. 36). Ist hier immerhin noch ein Sinn erkennbar, muss an anderen Stellen der Wortlaut in erheblichem Ausmaß emendiert werden, um die Bedeutung wiederherzustellen. Wie geht man als Editor mit einer derart schwierigen Überlieferung um? L. hat sich dazu entschieden, vorrangig das Original der Epitome zu rekonstruieren, so wie es zwischen dem späten 6. und dem späten 7. Jh. entstanden ist. Da der Bearbeiter ein Rechtskenner war und das Ziel vor Augen hatte, eine sinnvolle Kurzfassung zu erstellen, ergibt sich dadurch die Notwendigkeit, vom Wortlaut der Hs. weitgehend abzuweichen. Diese editorische Entscheidung wurde von Sch. nicht geteilt, weswegen die Edition nicht wie geplant als Gemeinschaftsproduktion erschienen ist. Von Sch. stammt nur ein kleiner Teil der Einleitung, in dem überzeugend dargelegt wird, dass das Titelverzeichnis nicht aus dem Text der Epitome gewonnen ist. L. hat daraus die problematische Konsequenz gezogen, das Titelverzeichnis nicht in die Edition aufzunehmen. Diskutabel ist ebenso der tiefgreifende Eingriff in den Wortlaut. Um nur ein Beispiel zu nennen: Was in der Hs. folgendermaßen lautet: Quacumque legis sine diae et console fuerint prolate non valebunt, liest sich bei L. so: Quecumque leges sine die et consule fuerint prolate, non valebunt (S. 34). Die Änderung der Orthographie wird durch Kursivdruck kenntlich gemacht, ohne dass aber für den Benutzer der genaue Wortlaut des Originals sichtbar wäre. Größere Eingriffe sind dagegen im textkritischen Apparat vermerkt (z. B. maiorum erus statt richtig maior numerus, S. 34). Als Ergebnis steht ein lesbarer Text zur Verfügung, der als Grundlage für eine Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite dient. Bei der Übersetzung gab L. der Verständlichkeit den Vorzug und versuchte bei der Wortbedeutung die Verhältnisse des 7. Jh. zu berücksichtigen (z. B. princeps als „Fürst“ und nicht als „Kaiser“). Dies ist alles in sich stringent, wenn man eine Benutzung der Edition in einem juristischen Seminar vor Augen hat. Für die historische Forschung ergibt sich jedoch das Problem, dass der Blick in die Hs. (bzw. das gut verfügbare Digitalisat) weiterhin notwendig ist, wenn man den präzisen Wortlaut kennen will. Der begleitende Kommentar ist für jeden Rechtshistoriker des Früh-MA eine wahre Fundgrube. L. erläutert darin die Arbeitsweise des Redaktors und vergleicht das Resultat mit den anderen Kurzfassungen des Breviars. Bemerkenswert ist beispielsweise, wie durch Kürzung das Verbot der Apostasie zum Judentum oder Heidentum zu einer generellen Vorschrift zur Nicht-Achtung des christlichen Namens wurde. Für die leichtere Nutzung von Kommentar und Text wären aber Seitentitel hilfreich gewesen, weil nicht jedem die Abfolge der im Breviar versammelten Texte geläufig ist. In der Zusammenfassung am Ende des Bandes werden die Ergebnisse des Vergleichs ausführlich dargelegt: Der Bearbeiter kürzte das Breviar auf ein Fünftel des Umfangs, benutzte dabei meistens die Interpretationes zum Breviar, versäumte es aber, die Rubriken an den gekürzten Text anzupassen. Er überging Begründungen, Klarstellungen, Fallvarianten, nähere Einzelheiten und manchmal auch Sanktionen. Dennoch bleibt der Text auch ohne Kenntnis des Breviars verständlich. Grundlage seiner Arbeit war ein um einige Novellen des 5. Jh. erweitertes Breviar; ob bereits die Vorlage eine andere Abfolge der Bestandteile des Breviars hatte, lässt sich nicht mit Gewissheit beurteilen. Eine Anpassung an neue Verhältnisse war wohl an keiner Stelle intendiert, wenngleich ganz obsolete Regelungen offenbar vermehrt der Kürzung zum Opfer gefallen sind. Vor allem ging es dem Bearbeiter darum, das Breviar stark zu kürzen und praktikable Rechtssätze zu bieten. Zudem ist L. der Ansicht, dass „weniger strikte Pflichten der Obrigkeit und größere Entscheidungsfreiheit für Richter und sonst Mächtige … den Beginn der Feudalzeit“ (S. 439) anzeigen. Insgesamt bereichert das Buch die Forschung auf vielfache Weise: durch einen lesbaren Text einer römischrechtlichen Bearbeitung; durch die Übersetzung und den umfangreichen Kommentar; und durch die ausgewogene und weiterführende Bewertung der Epitome im Kontext der frühma. Rechtsgelehrsamkeit.

Karl Ubl

(Rezensiert von: Karl Ubl)