Mechthild und das „Fließende Licht der Gottheit“ im Kontext. Eine Spurensuche in religiösen Netzwerken und literarischen Diskursen im mitteldeutschen Raum des 13.–15. Jahrhunderts, hg. von Caroline Emmelius / Balázs J. Nemes (Beihefte zur Zs. für deutsche Philologie 17) Berlin 2019, Erich Schmidt, 422 S., Abb., ISBN 978-3-503-18722-5, EUR 89,95. – Der Band versammelt Beiträge, die 2016 anlässlich eines Workshops an der Bibl. Albertina in Leipzig vorgetragen wurden. Die Hg. weisen in ihrer Einleitung (S. 9–38) auf jüngere Hss.-Funde hin, die eine Überprüfung geläufiger Annahmen über Mechthild und ihr Werk notwendig machen. Thematisch ist der Band in vier Sektionen unterteilt, die dem Kloster Helfta, der Intertextualität des Fließenden Lichts, seiner Rezeption im mitteldeutschen Raum und seiner Sprache gewidmet sind. Cornelia Oefelein (S. 41–64) eröffnet die Sektion zu Helfta mit einem Überblick über seine ma. Geschichte. Sie beleuchtet die Gründungsgeschichte, die familiären Verbindungen bedeutender Schwestern und auch von Gegnern des Klosters, seine Beziehungen zu anderen Klöstern der Region, die Geschichte Neu-Helftas und zuletzt die Streitfrage der Ordenszugehörigkeit. Diesbezüglich kommt sie durch eine kritische Relektüre eines häufig zitierten Briefs der Äbtissin Sophia von Stoltenberg zu dem Ergebnis, dass Helfta durchgängig ein „Benediktinerinnenkloster mit zisterziensischer Observanz“ (S. 62) gewesen sei. Jörg Voigt (S. 65–87) untersucht die Beziehung zwischen geistlichen Frauen und dem Dominikanerorden im östlichen Teil der Ordensprovinz Teutonia im 13. Jh. Nach einem Abriss zur Gründung von Dominikanerinnenklöstern in diesem Raum wendet er sich den Verbindungen der örtlichen Dominikaner zu Zisterzienserinnen und Beginen zu, auf die urkundliche und hagiographische Quellen hinweisen. Dazwischen ist das Approbationsschreiben des Legatus divinae pietatis Gertruds von Helfta angesiedelt. V. identifiziert die darin genannten Gutachter, die Mendikantenorden, insbesondere den Dominikanern angehörten. Balázs J. Nemes (S. 89–123) liefert neue Erkenntnisse zur Stellung Mechthilds von Magdeburg im Helftaer Literaturbetrieb. Zentral ist hierbei die fruchtbare Auswertung einer frühen Fassung des Legatus divinae pietatis, die kürzlich in der Hs. Leipzig, Univ.-Bibl., 827, aufgefunden wurde und der Vulgatfassung, die wir heute kritisch ediert in der Reihe der Sources Chrétiennes lesen, wohl vorausgeht. Eine Gegenüberstellung der Fassungen zeigt, dass die Leipziger Hs. an einschlägigen (hier als Beigabe edierten) Stellen die bekannten Verweise auf eine soror M. vereindeutigt und klar eine soror Mechthildis benennt, die nach N.s Ausführungen guten Gewissens als Mechthild von Magdeburg identifiziert werden kann. Almuth Märker (S. 125–153) veranschaulicht die Rezeption der Helftaer Literatur im mitteldeutschen Raum, und zwar anhand von drei bedeutenden Hss., die sich heute in der Univ.-Bibl. Leipzig befinden und sich mit ihrer Entstehung im 1. Viertel des 14. Jh. durch besondere zeitliche Nähe zu ihren Helftaer Texten auszeichnen: Ms. 846 aus dem Dominikanerkloster Pirna, welches die Vita s. Dominici Dietrichs von Apolda (und somit Auszüge aus der Lux divinitatis) enthält; Ms. 671 aus dem Zisterzienserkloster Altzelle mit dem Liber specialis gratiae; Ms. 827 aus dem Benediktinerkloster Pegau mit dem Legatus divinae pietatis. Anhand paläographischer und kodikologischer Befunde gelingt es M., diese wichtigen Hss. wesentlich präziser zu datieren und zu lokalisieren als bisher möglich. In der Sektion zur Intertextualität des Fließenden Lichts grenzt Caroline Emmelius (S. 157–190) das Fließende Licht und den Liber specialis gratiae hinsichtlich ihrer Bezüge zur Liturgie gegeneinander ab. Während Liturgie im Liber „als zentrales Strukturmoment klösterlichen Lebens“ (S. 187) fungiere, sei sie im Fließenden Licht viel mehr Gegenstand als Anlass von Visionen, wobei das Verhältnis der Einzelseele zu Gott und nicht der Kontext der Klostergemeinschaft im Zentrum stehe. Sandra Linden (S. 191–210) zeigt zunächst auf, dass die stiefmütterliche Behandlung des 7. Buchs des Fließenden Lichts durch die Forschung in keinem Verhältnis zu seiner Beliebtheit im MA steht, von der die Streuüberlieferung inklusive der Moskauer Fragmente zeugt. Die anschließende Untersuchung der Alterstopoi dieses Buchs verdeutlicht, dass diese nicht als biographische Zeugnisse einer gealterten Mechthild gelesen werden müssen, sondern als Autorisierungsstrategie verstanden werden können. Almut Suerbaum (S. 211–228) greift die alte Frage nach der Beziehung des Fließenden Lichts zum Minnesang auf. Sie plädiert dafür, von der häufigen Annahme, dass die lyrischen Passagen nach dem Vorbild oder zumindest mit Kenntnis der höfischen Liebeslyrik des Hoch-MA entworfen worden seien, Abstand zu nehmen. Für eine solche Beziehung gebe es schlichtweg „keine Beweise, die einer Überprüfung standhalten“, obgleich der Text durchaus lyrische Elemente aufweise und mit „offeneren Liedformen“ (S. 227) experimentiere. Natalija Ganinas (S. 229–248) Beitrag zur Eschatologie Mechthilds verortet die apokalyptischen Passagen des Fließenden Lichts in der ma. Erzähltradition, und zwar im Hinblick auf das Antichrist-Geschehen, die Rolle von Elias und Henoch, die sogenannten letzten Brüder (d. h. die letzten Dominikaner am Ende der Welt) sowie die Vorstellung des Endkaisers, der bei Mechthild mit dem letzten Ordensmeister der Dominikaner verschmilzt. Die große Rolle des Predigerordens gehe wahrscheinlich auf mittelbare Rezeption der Schriften Joachims von Fiore zurück. In der Sektion zur Rezeption Mechthilds im mitteldeutschen Raum stellt Claire Taylor Jones (S. 251–279) die Visionen aus der Lux Divinitatis, die Einzug in die Dominikus-Vita Dietrichs von Apolda gehalten haben, in den Kontext der grassierenden Disziplinlosigkeit, mit der sich der Dominikanerorden am Ende des 13. Jh. konfrontiert sah. Sie macht deutlich, dass Dietrich Mechthilds Kritik am Zustand des Ordens nicht etwa abgeschwächt, sondern im Sinne der „Reformpropaganda“ (S. 265) deutlich geschärft hat. Robert E. Lerner (S. 281–301) stellt einen neuen Quellenfund vor: Der Franziskaner Dietrich von Arneveld, der als Lektor in der Provinz Saxonia aktiv war, zitiert in seiner 1389 verfassten, unikal überlieferten Abhandlung Silencium contra prophecias prophetarum Saxonie aus der Lux divinitatis. Diese Zitate lassen aufgrund ihrer Varianten und Erweiterungen auf eine verlorene Fassung der Lux divinitatis als Quelle schließen. Diese, so L.s Vermutung, gehe wiederum auf eine unbekannte Fassung des Fließenden Lichts zurück. Matthias Eifler (S. 303–336) widmet sich der Rezeption von Viten- und Offenbarungsliteratur in der Kartause St. Salvatorberg und im Benediktinerkloster St. Peter und Paul im Erfurt der zweiten Hälfte des 15. Jh. Die Hauptakteure seines Beitrags sind der nicht zweifelsfrei identifizierte Kartäuser Bruder N. sowie der Benediktiner Nikolaus von Egra, deren großes Interesse an Visionsliteratur sich in reger Kopiertätigkeit äußerte. Außerdem liefert E. Hinweise auf einen lebhaften Hss.-Austausch zwischen den beiden Klöstern. Catherine Squires (S. 339–356) unterzieht die jüngst gefundenen Zeugen des Fließenden Lichts, die Moskauer Fragmente und die Hs. Berlin, Staatsbibl., theol. lat. oct. 89, einer Schreibsprachenuntersuchung. Die Moskauer Hs. lokalisiert sie mit großer Sicherheit im südlichen Ostfalen, was nahelege, „dass der geographische Raum von Halberstadt-Helfta-Magdeburg der Ausgangspunkt der deutschen Mechthild-Überlieferung“ (S. 347) sei. Die Berliner Hs. sei weniger eindeutig, weiche aber in puncto Schreibsprache kaum vom Moskauer Text ab, so dass sie wahrscheinlich aus derselben Region stamme. Alexandra Belkind (S. 357–379) untersucht die Wahrnehmungsverben im Fließenden Licht (nach der Hs. Einsiedeln, Stiftsbibl., 277) im Hinblick auf die Zeitformen sowie auf die Verwendung des Passivs. Dabei bildet die Untersuchung analytischer Formen mit Modalverben den Schwerpunkt. Die Absenz des periphrastischen Futurs mit werden deutet B. als spezifisch niederdeutsches Merkmal. Wolfgang Beck (S. 381–400) stellt die bisherige sprachliche Verortung der Hs. Würzburg, Franziskanerkloster, I 110, auf den Prüfstand. Bei der Charakterisierung der Hs. als ostfränkisch sei der Wunsch Vater des Gedankens gewesen; B. fordert eine methodische Trennung von Provenienz und schreibsprachlichem Befund. Eine unvoreingenommene Untersuchung weise auf einen ostmitteldeutschen Schreiber, der die Mechthild-Exzerpte im elsässischen Raum abgeschrieben haben könnte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Band im Hinblick auf alle Aspekte der Forschung zu Mechthild von Magdeburg neue Erkenntnisse bereithält. Wer sich mit dem Fließenden Licht beschäftigt, wird ihn mit Gewinn konsultieren.
Jonas Hermann
(Rezensiert von: Jonas Hermann)