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Romain Telliez, Le Livre Rouge de l’échevinage d’Abbeville. Fin XIIIe siècle–1516 (Histoire et archives 20) Paris 2020, Honoré Champion, 655 S., ISBN 978-2-7453-5479-2, EUR 85. – Mit Ausnahme des Livre Rouge und eines Chartulars, des Livre Blanc, wurden die ma. Quellen von Abbeville durch eine Bombardierung am 20. Mai 1940 und den dadurch verursachten Brand des Rathauses fast vollständig zerstört. Der besondere Quellenwert des Livre Rouge wurde bereits im frühen 19. Jh. entdeckt. Zahlreiche Historikergenerationen und bekannte Gelehrte wie Augustin Thierry (1795–1856), der Auszüge daraus publizierte, zogen es immer wieder gern heran. Der Text diente als Grundlage der Diss. von Jean Boca über die Strafgerichtsbarkeit des échevinage von Abbeville im MA (1930), wurde bisher aber nie vollständig ediert. Es handelt sich um ein Pergamentregister mit 225 Blättern, dessen roter Einband namensgebend war. Die Bezeichnung nach der Farbe des Einbands war verbreitet. Benachbarte Städte wie Eu, Noyon, Saint-Quentin und Valenciennes besaßen ebenfalls solche ‘roten’ Bücher, in diesen Fällen handelte es sich vor allem um Chartulare (vgl. S. 7f.). Der Hauptteil des Inhalts (über 90 %) des vermutlich von aufeinander folgenden Schreibern des échevinage (aber auch von mehreren gleichzeitig auftretenden unterschiedlichen Schreiberhänden) niedergeschriebenen Livre Rouge von Abbeville besteht jedoch aus Einträgen zur städtischen Strafgerichtsbarkeit, seltener auch zur Zivilgerichtsbarkeit, insbesondere zu Erbauseinandersetzungen und dem Erbgang in weiblicher Linie (vor den ersten Jahrzehnten des 14. Jh.). Der Text ist durch eine große Heterogenität gekennzeichnet, die auch die chronologische Intensität der Aufzeichnungen betrifft. Am Anfang des ansonsten volkssprachlichen Texts stehen ein in Latein abgefasster, sorgfältig kalligraphierter ewiger Kalender und der Text der Stadtrechtsprivilegien von 1184. Insgesamt enthält der Livre Rouge über tausend Einträge zu Strafrechtsfällen. Der größte Teil betrifft Gewalttaten (448 Tötungsdelikte; 333 weitere Fälle von Gewalt; 13 Vergewaltigungen). Eine erhebliche Rolle spielen auch Diebstähle (221 Fälle) (Tab. S. 29). Für ein Viertel der verzeichneten Fälle ist der Ausgang unbekannt. Soweit Urteile überliefert sind, standen Verbannungsstrafen an erster Stelle (441 Fälle, Tab. S. 32f.), da sich Täter der Strafe sehr oft durch Flucht entzogen und dann in Abwesenheit dauerhaft aus der Stadt verbannt wurden (oft mit Androhung der Todesstrafe für den Fall der unerlaubten Rückkehr). Zeitlich begrenzte Verbannungen waren seltener. In 147 Fällen wurde eine Todesstrafe verhängt, vor allem für Tötungsdelikte und Diebstähle. Bei Diebstählen spielte auch das Alter der Täter eine Rolle bzw. ob es sich um Wiederholungstaten handelte. Jugendliche wurden bei Ersttaten in der Regel milder bestraft. Interessant ist auch die Strafe des Abrisses des Hauses eines Delinquenten. Typische Delikte waren Schlägereien, auch in Wirtshäusern, bei denen es schließlich zum Einsatz von Waffen (Messern, Dolchen, Schwertern, etc.) und zu Verletzten und Toten kam. Bei Diebstählen waren auch Frauen stark vertreten. Ein besonderes Augenmerk verdienen die (sonst bei französischen Städten eher schwer nachweisbaren) sehr regen zwischenstädtischen Kontakte: In Rechtsfällen holte sich Abbeville immer wieder Rat bei benachbarten Städten wie Amiens, Corbie, Saint-Quentin und, gelegentlich, auch Paris. Diese Belege können wichtige Hinweise zur noch wenig erforschten Erscheinung des sogenannten chef de sens bieten. Alles in allem handelt es sich, insbesondere angesichts der Seltenheit von edierten Quellen zur städtischen Strafgerichtsbarkeit/Hochgerichtsbarkeit in französischen Städten um eine sehr wichtige und äußerst interessante Edition, die künftigen Forschungen reichhaltiges, hochinteressantes Material bereitstellt.

Gisela Naegle

(Rezensiert von: Gisela Naegle)