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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Jérôme Verdoot, Une clôture hermétique? Isolement régulier et intérêts séculiers au monastère Saint-Pierre de Lobbes, VIIe–XIVe siècle (Pariser Historische Studien 119) Heidelberg 2021, Heidelberger Univ. Publishing, 327 S., Abb., ISBN 978-3-96822-004-8, EUR 45,90; DOI: https://doi.org/10.17885/heiup.630, 22.07.2022. – Es ist nicht einfach, ein originäres und innovatives Forschungsprojekt zu entwickeln zur Benediktinerabtei Lobbes, die westlich von Lüttich gelegen ist. Ältere Darstellungen zur allgemeinen Klostergeschichte werden ergänzt durch neuere gewichtige Untersuchungen zu gesonderten Thematiken (u. a. von Anne-Marie Helvétius, Alain Dierkens, Steven Vanderputten, Régine Le Jan). Der Vf. versucht, seinen eigenen Untersuchungsgegenstand auf der Analyse der Außenbeziehungen aufzubauen, wozu er einen Gegensatz voraussetzt gegenüber einer älteren Auffassung, die eine räumliche und damit verbundene soziale Isolierung benediktinischer Klöster annimmt. Dass diese Auffassung in der nun nicht mehr neueren Forschung überwunden ist, räumt er selbst ein, „rettet“ aber sein Projekt, indem er die Darlegung des konkreten Falls des Klosters Lobbes zur Exemplifizierung der im Titel angesprochenen Frage heranzieht. Als Ergebnis gelingt es ihm, eine umfassende und zeitlich weit ausgreifende Darstellung der Klostergeschichte einer der größten geistlichen Gemeinschaften des nordwestlichen Europa zu präsentieren. Die auf umfangreichen Quellenstudien aufbauende Untersuchung vermag zu überzeugen, weil sie detailliert Beziehungsgeschichten und zeitliche Veränderungen darlegt. Dass die Vorstellung einer Isolierung, wie der Vf. schreibt, letztlich eine Mystifikation und falsch sei (S. 52), wird eindrücklich gezeigt und belegt. Der Vf. konzentriert seine Darstellung auf die Einwirkungen von, Beziehungen zu und Konflikte mit laikalen Herrschern und den Bischöfen von Lüttich, wozu seit dem 11. Jh. Relationen zu benachbarten Adeligen hinzutreten. Ob und wie nicht-adelige Gruppen auf dem Land und in den entstehenden, oft sehr großen Städten in der Nachbarschaft mit dem Kloster kooperierten oder in Konflikte eintraten, wird nicht erwähnt. Dies hätte nahegelegen, da die Untersuchungen des Vf. zur Wirtschaftsgeschichte mehr bieten als nur Rekonstruktionen von Besitz, Gestaltung von Grundherrschaft und Verwaltungsorganisation, sondern grundlegende Veränderungen zeigen, die auf wirtschaftliche Neuerungen der jeweils zeitgenössischen Umwelt reagierten, vor allem die Anforderungen adeliger Gedächtniskultur und später das Vordringen der Geldwirtschaft. Unfreie als weitere Akteure der Außenbeziehungen einzubeziehen, hätte mehr bedeutet, als sie als Besitztitel zu subsumieren. Die zunehmende Monetarisierung des Klosterhaushalts führte, wie der Vf. darlegt, zur Veräußerung entfernt liegender Besitzungen oder zum Ersatz von Natural- und Arbeitsleistungen durch Geldabgaben. Ausführlich behandelt das Buch die Vogtei und untersucht deren verschiedene Typen mit ihren jeweils unterschiedlichen Anbindungen und Bedrohungen für das Kloster. So inhaltsreich das Buch auch ist, so wird doch mitunter ein impliziertes Wissen nicht hinreichend explizit gemacht. Dies zeigt sich bereits in einer Kapitelüberschrift, die lakonisch „La description des GAL“ (S. 213) lautet, ohne dass in diesem Kapitel das Akronym aufgelöst würde (das geschieht in der einleitenden Beschreibung der Quellen, es handelt sich um die Gesta abbatum Lobiensium). Oder es bleibt undeutlich, worin die „intrusion“ von Hubert im Jahr 864 genau bestand (S. 60). Genau untersucht sind hingegen die politischen Implikationen dieser Aktion mit Weiterungen zu den Königen Lothar II. und Karl dem Kahlen. Es wäre interessant gewesen, die Vermutung einer normativen Abschließung der Klostergemeinschaft anhand des benediktinischen Regeltextes, von consuetudines, von Reformbestimmngen auch durch Konzilien und Päpste zu überprüfen und dabei die Hinweise auf Außenbeziehungen zu berücksichtigen, wie Beherbergung vornehmer Gäste, Beziehungen zum Diözesanbischof, Einwirkungsmöglichkeiten benachbarter Abteien, Integration in räumlich ausgreifende Ordensinstitutionen, wie sie das vierte Laterankonzil und Papst Benedikt XII. befahlen. So aber entsteht das paradoxe Ergebnis, dass die Untersuchung vorwiegend aus einer Binnen-Perspektive von Klostergeschichte entwickelt wird, für die Beziehungen, Einwirkungen, Konflikte stets als von „Außen“ kommend erachtet werden und sich im Ergebnis oft als Bedrohungen für die autonome Existenz des Klosters darstellen. Statt nach einer Dichotomie von Norm und Praxis zu suchen, wäre es weiterführend gewesen, eine komplexe Struktur zu analysieren, in die das Kloster Lobbes eingewoben war. Als Fazit ist der reiche Ertrag der Untersuchung hinsichtlich einer im wahrsten Sinne des Wortes „beziehungsreichen“ Institution herauszustellen. Der Vf. untersucht die zeitlichen Brüche und Veränderungen sowie deren Ursachen und Motive. Dass die Untersuchung Lücken aufweist, die die Analyse gemäß der zentralen Fragestellung einschränken, ist wohl den Entstehungsbedingungen einer Diss. geschuldet, die innerhalb eines begrenzten Zeitraums angefertigt werden muss.

Hans-Joachim Schmidt

(Rezensiert von: Hans-Joachim Schmidt)