Tommaso Indelli, La giustizia nella Langobardia meridionale tra norma e prassi, Prefazione di Claudio Azzara, Premessa di Gabriele Archetti (Centro studi longobardi. Ricerche 4) Milano / Spoleto 2020, Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, 259 S., Abb., ISBN 978-88-6809-321-1, EUR 40. – Der Vf. setzt sich mit der Rechtspraxis in der Langobardia minor auseinander, das heißt dem Süden des langobardischen Italien, der von der fränkischen Eroberung des Langobardenreichs 774 unberührt geblieben war. Im Zentrum seines Interesses steht das Verhältnis zwischen Rechtsnormen – also dem langobardischen Recht (vom Edictum Rothari bis zu den Gesetzen der süditalienischen Fürsten, 643–866) – und der konkreten Anwendung, wie sie in der Rechtspraxis in den süditalienischen Fürstentümern geübt wurde. Diese hatten, wie I. zeigt, einen komplexen Charakter, sei es im Hinblick auf die Bevölkerung, die I. als ethnisch gemischt definiert, sei es im Hinblick auf die Rechtstraditionen, da in ihnen auch das römische Recht galt (wie im übrigen auch anderswo in Italien) und ein starker Einfluss des byzantinischen Rechts bemerkbar ist, insbesondere seit dem ausgehenden 9. Jh., z. B. in der zunehmenden Profilierung des Einzelrichters. Zu all dem kam noch lokales Gewohnheitsrecht, das sich von Region zu Region unterschied. I. verfolgt die Entwicklung bis zum Beginn des normannischen Zeitalters und beleuchtet die zunehmende professionelle Spezialisierung der Richter, die freilich niemals die Rolle der fürstlichen Rechtsprechung im Palast obsolet machte. Die Ausführungen zum langobardischen Süden im eigentlichen Sinn beginnen erst im dritten und letzten Kapitel; voraus gehen zwei Abschnitte mit weitergefassten Themen, einer über Institutionen und Recht der römisch-barbarischen Reiche, der andere über Idee und Praxis des Rechts im frühen MA. Allerdings geht I. diese Themen mit ihrem gewaltigen historiographischen Potential an, indem er sich vorwiegend auf rechtshistorische Literatur stützt, die mit abstrakten Kategorien arbeitet, wie sie für das Früh-MA ungeeignet sind. Obendrein macht er keinen Unterschied zwischen neueren Studien und klassischen Texten vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. Ein weiterer Schwachpunkt ist die Beziehung zwischen Text und Anmerkungen. Vielfach trifft man auf Seiten mit ein paar Zeilen im Obertext und langen Fußnoten. Dort werden höchst wichtige Themen abgehandelt, die keinesfalls in eine noch so lange Fußnote verbannt werden dürften, und manchmal führen die Anmerkungen weit weg vom eigentlichen Thema des Textes. In Fußnoten geht es etwa um die Stellung der Frau in der Langobardenzeit oder um die Frage, ob die Römer durch die Langobarden versklavt wurden oder nicht; diskutiert werden das Problem der Verschmelzung von Langobarden und Römern, die Eigenarten der Zeit Lothars und Ludwigs II. oder das Wesen der karolingischen Kapitularien. In anderen Fällen behandeln die Fußnoten ebenso hochwichtige Themen, die aber weitab liegen vom Hauptinteresse des Buchs (einige Beispiele: das Notariat, das Studium des römischen Rechts, der Königsbann, das common law, der Gottesfrieden). Der Vf. gebraucht Kategorien aus der germanischen Altertumsforschung (Tacitus dient als eine seiner Quellen) in einem veralteten Sinn (das ‘germanische Recht’). Kurzum, auch wenn I., was seine allgemeinen Deutungen angeht, in einigen Punkten richtige Ansichten vertritt, verhindert die Tatsache, dass er nur veraltete und einseitige Literatur heranzieht, eine Auseinandersetzung mit den Neuerungen in der Forschung der letzten 30 Jahre zur Geschichte des Früh-MA. Der einzige wirklich interessante Teil des Buchs ist das dritte Kapitel mit der Untersuchung zahlreicher konkreter Fallbeispiele zur Rechtsprechung in der südlichen Langobardia.
Stefano Gasparri (Übers. V. L.)
(Rezensiert von: Stefano Gasparri)