Wissen und Bildung in einer Zeit bedrohter Ordnung: Der Zerfall des Karolingerreiches um 900 / Knowledge and Culture in Times of Threat: The Fall of the Carolingian Empire (ca. 900), hg. von Warren Pezé (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 69) Stuttgart 2020, Hiersemann, 455 S., Abb., ISBN 978-3-7772-2024-6, EUR 118. – Der aus zwei Workshops im Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“ hervorgegangene, dreisprachige Band will prüfen, wieweit der politische Niedergang des Karolingerreichs auf die Kultur zurückgewirkt hat. Die geringere Zahl der erhaltenen Schriften und Hss. scheint das nahezulegen, doch, so P. in der Einleitung, soll eine „approche praxéologique“ (S. 22) materielle und ideelle Ressourcen näher unter die Lupe nehmen und prüfen, ob sich die „Transformation der karolingischen Welt“ in kultureller Hinsicht nicht lediglich anderen Sparten zugewandt hat. Tatsächlich zeichnen die Beiträge recht einheitlich ein anderes Bild. Im ersten Abschnitt (Carolingian Continuity during the „Century of Iron“) macht Frédéric Duplessis (S. 41–75) auf eine beachtliche Juvenal-Rezeption im 9. Jh. aufmerksam, die im 10. Jh. bis in die Schullektüre hineinwirkt. Susan Rankin (S. 77–101) erkennt in dem für den Trierer Chorgesang bestimmten Musiktraktat Reginos von Prüm neben der auf breitester Grundlage erstellten, geordneten Kompilation, die auch in der Praxis angewandt wurde, eine eigenständige Neuerung in der Unterscheidung einer natürlichen und einer künstlichen Musik. Sumi Shimahara (S. 103–146) relativiert (mit Listen der Hss., der Verbreitung einzelner Werke und der Inventare) die gängige Vorstellung, dass im 10. Jh. kaum neue exegetische Kommentare geschrieben worden seien, durch einen Blick einerseits auf die Kontinuität der vielfach abgeschriebenen Autoren des 9. Jh. und deren Gebrauch sowie auf Florilegien, andererseits auf Abänderungen, Anpassungen und Spuren von nicht erhaltenen Kommentaren und sieht das 10. und frühere 11. Jh. als eine „Zeit der Reifung“ und Vorbereitung einer neuen Exegese. Warren Pezé (S. 147–197) fragt nach dem Wissen über die – weiterhin anerkannten – Könige um 900: Politisches Denken hörte nicht auf, Synoden betonten die königliche Herrschaft. Die Diskussionen verliefen in karolingischen, fürstenspiegelartigen Traditionen, wurden im 10. Jh. weitergeführt und zeugen von einem nicht nachlassenden Interesse. Im zweiten Abschnitt über „Knowledge in the Making“ zeigt Wilfried Hartmann (S. 201–233) die Bedeutung des „Sendhandbuchs“ Reginos von Prüm und dessen Arbeitsweise auf. Neu ist die große Zahl zeitgenössischer Vorlagen, die Regino selbst aus den „gefährlichen Zeiten“ begründet: Neue Schandtaten bedürfen neuer Urteile. David Ganz (S. 235–247) stellt eine ausführliche Liste der (nach bestimmten Merkmalen) in Fleury entstandenen Hss. zusammen. Franck Cinato (S. 249–278) überblickt die Aktivitäten des umfassend gelehrten Mönchsbischofs und Grammatikers Israel, dem Otto der Große die Erziehung seines Sohnes Brun anvertraut hat. Mariken Teeuwen (S. 279–303) zeigt an Hss. dieser Zeit das große Interesse an Boethius, der nicht nur gelesen, sondern ausgiebig kommentiert wurde; manche Hss. waren mit breiten Rändern von vornherein dafür angelegt. Der dritte Abschnitt („Local Responses to a Global Crisis“) setzt das, ungeachtet der unpassenden Überschrift, fort: In Lyon, so Pierre Chambert-Protat (S. 307–324), entstanden nach Florus zwar keine originalen Werke mehr, doch Buchproduktion, auch für private Eigentümer, und Ausbildung gingen unvermindert weiter und hinterließen Spuren in Hss., während die Gelehrten selbst unbekannt bleiben. Der (ortsgebundenen) memoria wie dem silentium widmet Felix Schaefer (S. 325–348) seinen Beitrag über Prüm und Metz: Regino schreibe gegen den Verfallsprozess der Schriftkultur an, verschweige aber auch wesentliche Höhepunkte und verschleiere Prüms Stellung als Königskloster; an beiden Orten blieb vor allem die Erinnerung an das Königtum vital, um daraus politisches Kapitel zu ziehen. Bei den hier herausgestellten Parallelen zwischen beiden Klöstern sollte allerdings nicht übersehen werden, dass die Metzer Zeugnisse überwiegend aus der Blütezeit der Karolinger stammen. Giorgia Vocino (S. 349–373) zeigt anhand von Dichtungen wie dem Lied der Wächter von Modena (Schaller-Könsgen 11064) und der Liturgie, welche Reaktionen die Ungarneinfälle in Italien provozierten. Annette Grabowsky (S. 375–397) betrachtet den posthumen Schauprozess gegen den Papst Formosus und die dagegen gerichteten ‘Streitschriften’ (besonders des Auxilius) als Antwort auf bedrohte Ordnungen, die Formosus geradezu zu einem Heiligen stempelt, zu intensiver kompilatorischer, auch kirchenrechtlicher Tätigkeit führt und ein entsprechendes Wissen voraussetzt. In ihrer mit eigenen Gedanken weiterführenden Zusammenfassung betont Sita Steckel (S. 399–427) die Transformationen des Wissens, die aus der Bedrohung heraus zu Neuerungen und zu einem revidierten Bild der Kontinuitäten und Diskontinuitäten führen. Die Zeit um 900 ist danach geprägt durch „kulturelle Reifung“, „Mobilisierung in der Krise“ sowie „individuelle und intergenerationale Anpassung“. Für die Transformation der karolingischen Welt seien unterschiedliche, sich überlappende Entwicklungen zu beachten. Insgesamt rückt der Band die Krisenzeit um 900 kulturell in ein neues Licht mit interessanten Facetten. Wie weit Neuerungen aus der Krise entstanden sind, ist hingegen kaum beweisbar.
Hans-Werner Goetz
(Rezensiert von: Hans-Werner Goetz)