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Friguli Commentarius in evangelium secundum Matthaeum, cura et studio Anthony J. Forte (Rarissima Mediaevalia 6) Münster 2018, Aschendorff, 366 S., 8 Abb., ISBN 978-3-402-10447-7, EUR 57. – Die umfangreichste erhaltene Hs. des ‘Frigulus’ wurde Ende des 9. Jh. in Oberitalien geschrieben und kam über Quedlinburg nach Halle, wo sie in der Univ.- und Landesbibl. Sachsen-Anhalt unter der Signatur Qu. Cod. 127 verwahrt wird (im Folgenden: H). Sie enthält gut zwei Drittel des Gesamttextes (irrtümlich ist S. 13 nur von „one third of the original text“ die Rede) und bildet den Grundstein der hier vorgelegten editio princeps. Ihr Vorsatzblatt trägt neben einigen Federproben den Vermerk Friboli in Matheum in einer der Capitalis rustica nachempfundenen Schriftform. Leider ist der Editor F. weit hinter den Möglichkeiten geblieben, die ihm diese Erstedition geboten hätte. Das liegt zum einen daran, dass die Basis seiner Arbeit viel zu schmal gewählt ist. So hat er zwar die Forschungen von Lukas J. Dorfbauer rezipiert und mit diesem auch in Austausch gestanden; bei dessen Aufsatz Mittellateinisches Jb. 50/1 (2015) S. 59–90 hat er aber das Postskriptum S. 88 ignoriert, nach dem die Hs. Köln, Erzbischöfliche Dom- und Diözesanbibl., Cod. 57, aus dem ersten Drittel des 9. Jh. auf fol. 57–64 Auszüge (einschließlich des in H fehlenden Textanfangs) aus dem ‘Frigulus’ enthält. Dementsprechend fehlt die Kölner Hs. in der vorgelegten Edition. Zum anderen haben von 24 namentlich dem F(r)igulus zugeschriebenen Exzerpten (vgl. S. 40f.) in der Expositio libri comitis des um 830 verstorbenen Smaragdus von Saint-Mihiel lediglich fünf zwecks Lückenfüllung (S. 15 Anm. 2) Aufnahme gefunden. Die übrigen sind nicht einmal in den Similienapparaten (zu deren Aufbau vgl. S. 15) nachgewiesen, geschweige denn im Variantenapparat herangezogen worden; allerdings hätte man sich dafür auch ein Bild von der nicht gerade schmalen Überlieferung der letztmalig Migne, PL 102, edierten Expositio machen müssen. Somit stützt sich die Ausgabe fast ausschließlich auf H, das wie auch die Kölner Hs. mittlerweile digital auf der Seite der aufbewahrenden Bibliothek zur Verfügung steht. Eine Gegenkollation der ersten beiden Blätter von H nach diesem Digitalisat gegen die Ausgabe stimmt allerdings für deren Gesamttext skeptisch: So ist S. 47,5 superantem statt super artem zu lesen, S. 49,2 enim statt omni, S. 49,17 wohl eher ide(m) (für iidem) statt id est. S. 51,2 folgt auf Raphidi ein hochgestelltes s-artiges Zeichen, das möglicherweise eine Kürzung darstellt, denn die (im Apparat der Bibelstellen nicht nachgewiesene) Vorlage Vulg. Exod. 17,8–9 bietet Raphidim. S. 51,7 ist optulit durch Rasur eines l aus optullit verbessert, und S. 51,9 exp(re)ssit statt quod Christus sit zu lesen. S. 51,13 ist Dominus Deus zwar richtig, aber in H findet man Deus Deus, ohne dass im Apparat darauf verwiesen würde. S. 51,24 steht anteponatur anstelle des Simplex. Diese Aufzählung lässt sich nach Stichproben auf weiteren Seiten durchaus vermehren. Mehr als ärgerlich ist ferner, dass die bis zu vier Apparate (vgl. S. 15) – Bibelzitate, patristische Quellen, „parallel texts“, Lesartenapparat – nicht sauber voneinander getrennt sind. So tauchen Bibelstellen auch im patristischen Apparat auf (etwa S. 139), der wahrscheinlich ins 8. Jh. gehörige Liber quaestionum in evangeliis sowohl im Apparat der patristischen Quellen als auch der „parallel texts“ (so S. 143). Lesarten aus den Väterschriften werden in den Variantenapparat aufgenommen, ohne zur Konstituierung des Textes beizutragen (beispielsweise S. 151) oder überflüssigerweise in den Text gesetzt: So erfordert S. 117,9 das Adjektiv pellicia eine ebenso adjektivische Erklärung, weshalb nichts gegen das in den Apparat verbannte linea (= linnea) von H spricht, das gegenüber dem nach Hilarius in den Text gesetzten lana vielmehr als lectio difficilior anzusehen ist. Wenn dann auch noch Sedulius Scottus, den F. – warum auch immer – bereits 858/59 sterben lässt, unter die patristischen Quellen gerechnet wird, wundert man sich doch sehr. Dazu passt, dass S. 19 ernsthaft erwogen wird, ‘Frigulus’ könne Sedulius Scottus rezipiert haben, obwohl dieser erst in den 840er-Jahren für uns literarisch greifbar wird, also mindestens ein Jahrzehnt nach dem Tod des Smaragdus von Saint-Mihiel. Hier rächt es sich, dass der Hg. sich in einem eigenen Kapitel „Authorship“ (S. 38–41) zwar mit dem Namen des Anonymus und seiner Rezeption bei Smaragdus auseinandergesetzt, sich aber um die Datierungsfrage des ‘Frigulus’ gedrückt hat. Im Variantenapparat, der den Namen kritischer Apparat nicht verdient, wird der Textbestand von H verschiedentlich irrig wiedergegeben: So steht dort S. 72,15f. zweimal nicht robitus sondern rob(us)tus; die Kombination b mit Punkt ist bereits spätantik für -bus nachweisbar. S. 73,10 wird auf Nichtlesbarkeit plädiert und aus dem Liber quaestionum in evangeliis <frater matris> als Interpretament für den Namen Achim in den Text gesetzt. Tatsächlich folgt in H eine Lücke auf den Namen; das Pendant zum vom Schreiber gesetzten Einfügungskreuz über dem Namen fehlt. Eine Hand wahrscheinlich des 15. Jh. hat die Lücke mit den Worten pater meus gefüllt. Überhaupt scheint F. mit der Lesbarkeit dieser spätma. Hand größte Schwierigkeiten gehabt zu haben, bezeichnet er sie doch immer wieder als nicht lesbar. Als echtes Kunststück ist dabei seine einheitliche Lesung dreier spätma. Marginalien als Augustino auf fol. 26v zu werten, wo vielmehr no(tand)u(m) (S. 139,4; vgl. schon S. 135,28 und S. 138,5), sci(endu)m (S. 139,24) und ite(m) (S. 140,6) aufzulösen sein dürfte. Verwirrend ist die Benutzung eckiger Klammern für gleich drei Tatbestände: Ergänzung verlorener Stücke, Einfügung von abgekürzten Quellenangaben am Seitenrand von H, Tilgung von für überflüssig erachtetem Text. Was jeweils zutrifft, darf der Leser sich aussuchen. Diese Verwirrung wird noch dadurch gesteigert, dass die Quellenangaben oft in der von H gebrauchten Abkürzung (einschließlich Groß- und Kleinschreibung) wiedergegeben sind (eine Zusammenstellung dieser Abkürzungen, die der Überprüfung bedarf, bietet S. 16). Hier hätte man sich Einheitlichkeit gewünscht. Auch bei seinen sonstigen Eingriffen in den Text hat F. keine glückliche Hand bewiesen: So ist die Ergänzung S. 144,11 schlichtweg überflüssig und zerstört den Vergleich zwischen Wagenlenker und Redner, weil Beschleunigungs- und Verzögerungsvorgang an sich die Vergleichsebene bilden, nicht das bewegte Objekt. Wenn S. 94,9 Cruces in den Text gesetzt und an anderer Stelle (S. 30) wortreich erläutert werden, so liegt die Lösung mitsamt der paläographischen Erklärung auf der Hand: Statt uiaque ist quia zu lesen und der Fehler vermutlich durch ein verschobenes übergeschriebenes q mit Einfügungszeichen entstanden, das der Kopist als que missverstanden hat. Angesichts solcher Mängel fällt es dann kaum noch ins Gewicht, dass weder die Korrekturhände in H sauber voneinander getrennt sind noch die Selbstkorrekturen des Schreibers vollständig dokumentiert werden, dass e caudata durchweg stillschweigend zu ae oder, wie S. 52,3 coeperit, zu oe normalisiert ist und Textveränderungen vorgenommen oder Erklärungen abgegeben werden, die schlichtweg unnötig, weil bei mittellateinischen Autoren gängig sind (vgl. auch die Auflistung S. 27f.). Dazu gehören dann aber auch nucupare, dessen Formen S. 55,23, S. 59,17, S. 60,26 normalisiert werden, und ungere / ungentum S. 125,24f.; vgl. Stotz, Handbuch 3 S. 303 § VII 263,1, S. 144 § VII 110,2 und S. 147 § VII 111,1. Auch die Änderungen S. 127,13f. subtrahuntur und S. 127,18 quae sind überflüssig. Wie gesagt, das alles sind nur Stichproben, die aber nur zwei Schlüsse zulassen: Wer verlässlich wissen will, was in H steht, sollte den Codex oder wenigstens dessen Digitalisat zu Rate ziehen. Und wer eine kritische Edition des ‘Frigulus’ sucht, die heutigen Ansprüchen genügt, wird sie in diesem Buch sicher nicht finden.

Mathias Lawo

(Rezensiert von: Mathias Lawo)