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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 6: Völkerrecht, hg. von Orazio Condorelli / Franck Roumy / Mathias Schmoeckel (Norm und Struktur 37,6) Wien / Köln / Weimar 2020, Böhlau, XXX u. 392 S., 1 Abb., ISBN 978-3-412-51890-5, EUR 100. – Der Peter Landau († 2019) gewidmete Band beschließt eine eindrucksvolle Reihe von Tagungsbänden, die auf Treffen renommierter Rechtshistoriker aus Italien, Frankreich und Deutschland in der Villa Vigoni und im Kloster Steinfeld zurückgehen und sich mit dem Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur in den verschiedenen Disziplinen des Rechts beschäftigen (vgl. zuletzt DA 73, 400–402). Dieser letzte Band widmet sich dem Völkerrecht. Im dreisprachigen Vorwort der Hg. wird der Begriff des Völkerrechts ausgehend von der Definition Isidors von Sevilla problematisiert: Handelt es sich um das Recht zwischen den Völkern, das internationale öffentliche Recht oder einen Rechtsbereich jenseits des staatlichen Rechts? Die ins Decretum Gratiani übernommene Definition Isidors bleibe problematisch, da die genannten Begriffe kaum klar zu fassen seien. Es ging aber wohl vor allem darum, rechtliche Normen zwischen den Völkern zu etablieren, die Krieg und Frieden regeln sollten, was man auch als „Internationales Recht“ bezeichnen könnte. Der Band vereinigt sehr detaillierte Studien über verschiedene Spezialfragen des kanonischen Rechts mit etwas weiter gefassten Untersuchungen, die das ma. internationale Recht mit anderen Rechtsfeldern und anderen Epochen verbinden. Nach einer kurzen Stellungnahme Peter Landaus zur Bedeutung Isidors von Sevilla „als Quelle für das ‘Ius Gentium’ bei Gratian“ und als „wichtigster Vorläufer des Völkerrechtsdenkens in der europäischen Geistesgeschichte“ (S. XXIII–XXV) zeigt Franck Roumy (S. 1–38) in einem weitgespannten und zugleich sehr differenziert argumentierenden Überblick, dass die clausula rebus sic stantibus zwar ein intellektuelles Konstrukt des endenden 15. Jh. ist, ihre Wurzeln jedoch ins vorgratianische Kirchenrecht zurückreichen, als einige Kanonisten zu verstehen begannen, dass eidlich bekräftigte Abmachungen (Verträge) in Frage gestellt werden können, wenn neue Umstände das dem Eid zugrunde liegende Versprechen unannehmbar oder unrealisierbar erscheinen lassen. Noch unmittelbarer um Krieg und Frieden geht es in dem Beitrag von Orazio Condorelli (S. 39–85), der die Friedensverträge als Herzstück des Völkerrechts behandelt und in seiner mit ausführlichen Quellenzitaten untermauerten Analyse zeigen kann, wie die Äußerungen Augustins und Isidors von Sevilla, ebenfalls transportiert über das Decretum Gratiani, zusammen mit einigen Fragmenten aus den Digesten den ma. Juristen als Hauptquellen für ihre fundamentalen Aussagen zu diesem Thema dienten, die wiederum Hugo Grotius, einem der „padri fondatori del diritto internazionale moderno“ (S. 84), als wichtige Grundlage für seine Überlegungen dienten. Mathias Schmoeckel (S. 86–129) behandelt in Auseinandersetzung v. a. mit Erdmann und Althoff den Streit um die Erfindung des „heiligen Kriegs“, wie er sich seiner Ansicht nach in den kanonistischen Sammlungen zur Zeit des ersten Kreuzzugs widerspiegelt. Zumindest in der „kanonistischen Theorie“ sei es „bei der Betonung des Friedens und der Friedfertigkeit“ geblieben (S. 127). Nicolas Laurent-Bonne (S. 130–149) zeigt anhand der von den Päpsten in der Zeit von 1179 bis 1378 verfügten Handelsverbote mit den Muslimen den fundamentalen Unterschied zur modernen Embargopolitik auf, der vor allem darin bestanden habe, dass die von den Päpsten erlassenen Handelsverbote nicht zum Ziel hatten, der Kriegsgefahr vorzubeugen, sondern den Feind mit Blick auf den Kreuzzug zu schwächen, ein Vorgehen, das jedoch von Wirkungslosigkeit geprägt gewesen sei. David von Mayenburg (S. 150–179) führt in seinem Beitrag zum ius in bello im kanonischen Recht eingehend die methodischen Schwierigkeiten bei der Untersuchung dieses auf die ma. Verhältnisse nur schwer übertragbaren Begriffs vor und behandelt die mögliche Begrenzung von Kriegsfolgen anhand der Beispiele „Umgang mit Kriegsgefangenen“, „Kriegslist“ und „Kriegsmaschinen“, wobei am Ende die Frage, ob es einen spezifisch kanonistischen Einfluss auf das moderne europäische Recht des ius in bello gab, verneint werden muss. Rosalba Sorice (S. 180–189) beschreibt, wie der Jurist Paolo di Castro (1360–1441) in einem consilium, ausgehend von einem Streit zwischen den Städten Bologna und Pistoia, die Theorie entwickelt, dass es erlaubt sei, Menschen, die unter dem Bann stehen und als Feinde betrachtet werden, auch aus privaten Gründen zu töten. Florence Demoulin-Auzary (S. 204–218) unternimmt eine bereits in der Antike ansetzende, durch viele Zitate belegte, systematische und sehr aufschlussreiche Analyse des Begriffs ius humanitatis, um am Ende feststellen zu müssen, dass er in die Sprache des Rechts nicht eindringen konnte, wo er allein im Corpus iuris canonici an einer einzigen Stelle (Decretum Gratiani C.23 q.4 c.35) belegt ist, die jedoch nicht Gegenstand von weiterführenden Kommentaren wurde. Olivier Descamps (S. 219–245) beschäftigt sich mit der Regelung von internationalen Konflikten am Beispiel der Friedensvermittlung zwischen England und Frankreich durch Papst Bonifaz VIII. und bietet im Anhang den vollständigen Text der päpstlichen Bestätigung vom 30. Juni 1298 nach der Edition des Registers Bonifaz’ VIII. von Digard. Giovanni Chiodi (S. 246–282) analysiert einige Etappen der Debatte zu den verschiedenen Formen der Staatsbürgerschaft (cittadinanza) in der spätma. und frühneuzeitlichen Kanonistik und im ius commune des Königreichs Neapel, Frankreichs und des Reichs. Als eine der Grundlagen für seine Analyse bietet er die Transkription einer längeren, bisher unedierten Textpassage aus dem Werk des Baldus de Ubaldis (Repetitio ad C. 1.1.1., de summa Trinitate, l. Cunctos populos) nach einer Florentiner Hs. Andrea Padovani (S. 283–315) bespricht den ersten Fall von Staatenlosigkeit in Europa am Beispiel des (nicht existenten) Rechtsstatus der Sinti und Roma am Ende des MA und zu Beginn der Neuzeit sowie seine Bedeutung für das erst allmählich entstehende internationale Privatrecht. Weitere Beiträge sind frühneuzeitlichen Themen gewidmet. Trotz der sehr unterschiedlichen und manchmal auch negativen Ergebnisse im Hinblick auf die Leitfrage wird hier ein Band präsentiert, der auf viele wichtige und gerade auch heute aktuelle Fragestellungen im Umkreis von Krieg und Frieden eingeht und dabei in anregenden Studien von der Analyse einer Vielzahl von Quellen profitiert.

Lotte Kéry

(Rezensiert von: Lotte Kéry)