Davide Liberatoscioli, Juden ohne Päpste. Inklusion und Judenfeindlichkeit zwischen Rom und Avignon (Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 52) Berlin / Boston 2021, De Gruyter Oldenbourg, VIII u. 231 S., ISBN 978-3-11-070440-2, EUR 99,95. – Der Vf. setzt sich zum Ziel, drei Hauptthesen zu untermauern, nämlich dass der Wegzug der Päpste nach Avignon zu einem Bruch der päpstlichen Politik gegenüber den italienischen Juden geführt habe, dass die wichtigste Ursache dafür der Einfluss der antijüdischen Haltung der französischen Monarchie und die judenfeindliche französische Mentalität gewesen sei und dass Integrationsprozesse in den mittel- und norditalienischen Städten die Juden in deren Bürgerschaft einbezogen hätten. Die päpstlich-jüdischen Beziehungen in vor-avignonesischer Zeit schildert er als Kooperation, ja als „wirtschaftlich-politisches Bündnis ... zur gegenseitigen Unterstützung von Päpsten und jüdischen Gemeinden“ (S. 3). In der Zeit von 1285 bis 1303 habe sich diese Politik konsolidiert. Die Päpste hätten die Möglichkeit gesehen, durch die Förderung jüdischer Banken Einfluss auf die Kommunen des Kirchenstaats zu gewinnen. Die avignonesischen Päpste (1305–1377) hätten dann eine drastische Wende, einen „traumatischen Wendepunkt in der Geschichte der römischen Juden im Mittelalter“ (S. 46), herbeigeführt. Die in langen Konflikten zwischen zentralisierender Monarchie und Landesherren entwickelte französische antijüdische Haltung habe zu der bewussten ideologischen Maßnahme der französischen Krone beigetragen, die Politik des Papstes gegenüber den römischen Juden zu ändern. Der Brief des Grafen Philipp von Anjou (des späteren Königs Philipp VI.) an Johannes XXII. zeige, wie stark antijüdische Stereotype in der königlichen Familie verbreitet waren. Indessen ist der jüdische Geldverleih in Italien gerade während der Avignonzeit aufgeblüht, und es gelang, in den Kommunen „Modelle von sozialen und kollektiven Zugehörigkeiten zu bilden, die es im sonstigen Europa des Mittelalters nicht gab“ (S. 155). Dem Rez. erscheinen einige Urteile überspitzt, oft sind es auch Verallgemeinerungen von Einzelfällen. Für die Finanzwirtschaft der Kurie haben die römischen Juden auch in vor-avignonesischer Zeit wohl keine derart zentrale Rolle gespielt. Ihnen fehlte die Vernetzung in ganz Europa, die dafür unerlässlich war, wie das klassische Werk von Yves Renouard gezeigt hat (es fehlt im Literaturverzeichnis), der auch darauf hinwies, dass für den Abbruch der Beziehungen zu italienischen Gesellschaften eine völlige Neuordnung der kurialen Finanzverwaltung zunächst ursächlich war. Die von L. mehrfach als zentraler Beleg für den französischen Einfluss herausgestellte Darstellung der sogenannten Leprosenverschwörung im Brief Philipps von Anjou und damit verknüpft die Vertreibung der Juden aus dem Comtat Venaissin durch Johannes XXII. beruht auf einer überholten Deutung. Die neueste, minutiöse Arbeit dazu von Valérie Theis (Annales 67, 2012, S. 41–77) ist L. entgangen. Danach sind der angebliche Brief des Grafen Philipp und der Brief des Papstes dazu gefälscht und von Johannes XXII. wohl nicht zur Kenntnis genommen worden. Der Entschluss zur Vertreibung wurde schon 1320 gefasst, also vor der Datierung der Fälschung. Theis formuliert dazu: „il n’apparaît plus possible de défendre la thèse d’une forme d’influence de la politique française sur celle du pape“ (S. 60). Der Papst sei mit seiner Politik der Konvertierung gescheitert und habe die Juden deshalb, wie er selbst später begründete, aus dem Comtat Venaissin vertrieben: „la décision de chasser les juifs du Comtat apparaît comme le résultat d’une véritable politique pontificale“ (S. 61).
Hans-Jörg Gilomen
(Rezensiert von: Hans-Jörg Gilomen)