Der Liber Proscriptorum. Das Wismarer Verfestungsbuch 1353–1430, hg. von Nils Jörn, bearb. v. Sonja Birli, Teil 1: Einleitung, Reproduktion und Transkription. Teil 2: Übersetzung und Register (Schriftenreihe der „Freunde und Förderer des Archivs der Hansestadt Wismar e. V.“ 9) Wismar 2019, Callidus, 2 Bde. mit VI u. 294 S., 166 S., ISBN 978-3-940677-58-7, EUR 30. – Nils Jörn (Hg.), Verfestungen, Stadtverweisungen, Urfehden. Kriminalität und ihre Ahndung in mittelalterlichen Hansestädten am Beispiel Wismars (Schriftenreihe der „Freunde und Förderer des Archivs der Hansestadt Wismar e. V.“ 12) Wismar 2020, Callidus, 286 S., ISBN 978-3-940677-19-8, EUR 20. – Zu den großen ungelösten, vielleicht sogar unlösbaren Problemen der ma. Rechtsgeschichte gehört die historische Kriminologie, also die Geschichte der Straftaten und ihrer Verfolgung. Über die normative Seite sind wir gut informiert; von den leges barbarorum der Völkerwanderungszeit über Kapitularien und Gottes- und Landfrieden bis hin zu den hoch- und spätma. Land- und dann Stadtrechten wissen wir viel darüber, welche Taten wie bestraft werden sollten. Aber wie sah der Rechtsalltag aus? Wen trafen die harten und arbiträren peinlichen, spiegelnden Strafen, wer konnte sich mit Bußzahlungen freikaufen, wer kam ungeschoren davon? Außerhalb der Welt des gelehrten Rechts – für das Strafrecht muss hier der Name des Albertus Gandinus, Autors des Tractatus de maleficiis (1286/87), fallen – kennen wir zwar Fälle, die spektakulär genug waren, um Aufnahme in Chroniken, Heiligenviten oder Romane zu finden. Doch wir wissen beklagenswert wenig über den Alltag ma. Kriminalität und Strafverfolgung. Diese Quellenlage macht Editionen wie die des Wismarer Liber proscriptorum so wertvoll. Fast nur solche zu der bunten Gruppe der Stadtbücher zählende Gerichts- und Verfestungsbücher erlauben zumindest ansatzweise serielle Untersuchungen und vorsichtige quantitative Aussagen zur Kriminalität. Der Hg. J. und die Bearbeiterin B. stellen das Wismarer Verfestungsbuch mit seinen Einträgen aus den knapp 80 Jahren nach der Großen Pest in einer mustergültig gearbeiteten und dazu noch preiswerten Edition der Forschung zur Verfügung. Die über 60 Seiten starken, sorgfältigen Register ebnen den Weg zu den einzelnen Einträgen. Der anschließende Sammelband wertet die Einträge aus. Zunächst schildert J. (S. 11–23) farbig das Alltagsleben in Wismar zur Zeit des Verfestungsbuchs. Dann beschreibt und erläutert B. (S. 25–36) die Quelle, die sie aus ihrer jahrelangen Arbeit an der Edition bestens kennt. Ihr besonders lesenswerter Beitrag führt in die Quellengruppe und den Forschungsstand ein und analysiert die insgesamt fast 1000 Verfestungen, Stadtverweise und Urfehden quantitativ und qualitativ. Erwähnung finden auch die beiden berühmtesten, leider nicht datierbaren Einträge in das Buch, denen zufolge „Nicolaus Stortebeker“ Opfer einer Körperverletzung wurde und „Godeke Mychele“ zusammen mit Helfern die Ortschaft Buckhorn überfiel. Ein Zusammenhang mit den beiden sagenumwobenen Vitalienbrüdern liegt nahe, kann aber nicht weiter erhärtet werden. In dem Band folgen dann noch elf z. T. bereits schön gelungene studentische Beiträge, die aus einem Rostocker historischen Hauptseminar zum Thema des Verfestungsbuchs hervorgegangen sind. Insgesamt ist der Sammelband ein unverzichtbarer Treibriemen zur Nutzung der Quelle, die mit ihren knappen Einträgen trotz der ausführlichen Register ohne diese Hilfe nur schwierig zum Sprechen zu bringen wäre. Nicht veröffentlicht wurden u. a. Referate zu den Themen Beleidigung, Testamente und Zauberei (S. 8). Das klingt wie eine Einladung zur nächsten Beschäftigung mit dieser wertvollen, nun vorbildlich aufbereiteten Quelle.
Albrecht Cordes
(Rezensiert von: Albrecht Cordes)