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Digitale Vorab-Veröffentlichung der Rezension aus DA 79,1 (2023) *.

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Igor Santos Salazar, Governare la Lombardia carolingia (774–924), (Altomedioevo, n. s. 9) Roma 2021, Viella, 343 S., Abb., ISBN 978-88-3313-815-2, EUR 30. – Ausgehend von der internationalen Debatte über die Staatlichkeit im Früh-MA zielt S. S. darauf ab, Formen und Strukturen der Machtausübung in der Lombardei unter den Karolingern zu untersuchen: von der Eroberung von Pavia seitens Karls des Großen (774) bis zur Ermordung König Berengars I. (924). Der untersuchte Raum – die „Lombardia carolingia“ – entspricht nicht der heutigen Lombardei, sondern einer etwas größeren Region, die sich von den Alpen bis über den Fluss Po erstreckt – auch Guastalla, Luzzara und Polesine Parmense werden in die Betrachtung einbezogen – und vom Fluss Sesia im Westen – Vercelli ausgenommen – bis zum Fluss Mincio im Osten. Auch der Zeitraum der Untersuchung ist erklärungsbedürftig: Um 920 wurden laut S. S. spezifische Rahmenbedingungen hinfällig infolge des Todes der Akteure, die unter den letzten Karolingern ihre Karriere begonnen hatten. Mit der Thronbesteigung Hugos von Arles (926) gelangten neue Personen an die Macht, und gleichzeitig änderten sich die „politischen Strategien“. In den 150 Jahren davor habe die so konturierte karolingische Lombardei eine „Königslandschaft“ (S. 34) gebildet, in der sich das Wirken der fränkischen Herrscher häufiger und stärker als in anderen Gebieten des ehemaligen Langobardenreichs zeige. Um die Beziehung zwischen zentraler Macht und lokalen Amtsträgern, die wirtschaftliche Basis des Machtgefüges, die Machtorte und teilweise auch die Formen der politischen Kommunikation und Repräsentation zu untersuchen, stehen S. S. nicht nur erzählende Quellen und Gesetze, sondern vor allem 500 Urkunden zur Verfügung, deren Entstehung, Verwendung, Überlieferung und Editionsgeschichte er ausführlich beschreibt (S. 39–74). Anschließend stellt er die Entwicklung der karolingischen Herrschaft in Italien dar, die er in vier Phasen gliedert (S. 75–141). Die erste umfasst die Jahrzehnte von der Eroberung bis zum Tod des „Unterkönigs“ Bernhard (774–818). In der zweiten und zentralen Phase (822–875) stabilisierte und entfaltete sich die zentrale Macht unter Lothar I. und Ludwig II., die ihren Anspruch auf die Kaiserkrone durchsetzen konnten. Die folgenden dreißig Jahre in Reichsitalien (875–905) waren von Bürgerkriegen geprägt, deren Ergebnis – die vierte Phase (905–924) – die angespannte Regierungszeit Berengars I. war. Erst im dritten Kapitel (S. 143–210) befasst sich S. S. mit Ideal und Wirklichkeit der Regierung unter den karolingischen Herrschern im untersuchten Raum. Zunächst widmet er sich der Verwendung und Bedeutung des Begriffs res publica in verschiedenen Quellen. Anschließend konzentriert er sich auf die Machtausübung von Grafen und Bischöfen als Amtsträgern des Reichs: Er betrachtet konkrete Aspekte ihres ministerium, sowie die zentrale Bedeutung der wandelbaren fidelitas. S. S. exemplifiziert diese Komplexität anhand einer „Mikrogeschichte“ des Bischofssitzes Cremona (S. 182–195). Im vierten Kapitel (S. 211–276) setzt sich S. S. mit den wirtschaftlichen Ressourcen auseinander, die den Herrschern für ihre Machtausübung zur Verfügung standen. Indem er die Verteilung der Fiskalgüter und die Relevanz der Machtorte betrachtet, kann er behaupten, dass die klassische Meistererzählung, das Reich sei aufgrund von Missbrauch der Ressourcen durch die letzten Herrscher untergegangen, nicht wirklich begründet sei, da deren Praktiken eine gewisse Kontinuität mit denen der Vorgänger aufwiesen. Insgesamt gelingt es S. S.s regionaler Untersuchung, die Komplexität des damaligen Machtgefüges abzubilden, insbesondere das dynamische und angespannte Verhältnis zwischen den Herrschern und den Amtsträgern, die lokal die Regierungsansprüche umsetzen mussten. Außerdem kann er zeigen, dass das von den spätkarolingischen Gelehrten erarbeitete Narrativ des Untergangs nicht der tatsächlichen Entwicklung entspricht. Seine Bemühungen, Geschichtsprobleme und Quellenlage genau zu beschreiben, sind jedoch nicht ausreichend, um eine systematische und stringente Analyse zu entwickeln. Eine fehlende Präzisierung der Leitbegriffe und dementsprechend schwach strukturierte Fragestellungen sowie eine Darstellung der Ereignisse, die oft zu einer etwas impressionistischen Färbung neigt, schränken das Potenzial dieser Untersuchung ein.

Eugenio Riversi

(Rezensiert von: Eugenio Riversi)