Charis Messis, Le corpus nomocanonique oriental et ses scholiastes du XIIe siècle. Les commentaires sur le concile in Trullo (691–692) (Dossiers byzantins 18/1) Paris 2020, Centre d’études byzantins, néo-helléniques et sud-est européennes, 572 S., ISBN 979-10-94824-04-7, EUR 98. – Das Concilium Quinisextum ist vielleicht die wichtigste kirchenrechtliche Synode der Ostkirche, die als Ergänzung zum fünften und sechsten ökumenischen Konzil 692 im Trullanischen Saal des kaiserlichen Palastes in Konstantinopel abgehalten wurde (Trullanische Synode), 102 Kanones erlassen und eine Reihe von Kanones lokaler Synoden und Kirchenväter sowie die apostolischen Kanones als ökumenisch und panorthodox geltend bestätigt hat (c. 2). Das vorliegende Werk ist für die Kirchengeschichte und für das Kirchenrecht aus verschiedenen Gründen von großer Bedeutung. Es bietet: 1) eine kritische Edition des Texts des Konzils unter Berücksichtigung aller bis jetzt erschienenen kritischen Editionen; 2) eine kritische Edition aller Kommentare der drei wichtigsten byzantinischen „Zitierkanonisten“ des 12. Jh., Zonaras, Aristenos, Balsamon, einschließlich eines apparatus criticus zu diesen Kanones; 3) eine gelungene französische Übersetzung sowohl der Kanones als auch der Kommentare der byzantinischen Kanonisten – der Vf. kennt die zwei vorhandenen Übersetzungen und bietet eine neue, die „einige Missverständnisse der vorherigen Übersetzungen hoffentlich beseitigt“ (vgl. S. 73); 4) eine lange und sehr informative Einleitung (S. 13–74) über den geschichtlichen Hintergrund der Kommentare des 12. Jh. (Lebenslauf und persönliche Interessen der großen Kanonisten, Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die Neuorganisation der Kirche auch angesichts der Gefahren aus dem Osten z. B. durch die Armenier und die Muslime und aus dem Westen durch die Lateiner). Außerdem geht der Vf. auf die literarischen und rechtswissenschaftlichen Formen dieser Zeit ein. Dieser Teil ist besonders wertvoll, weil der Vf. versucht, basierend auf Vorarbeiten von S. N. Troianos, die Vorgehensweise der Kanonisten zu erklären und gleichzeitig zu zeigen, wie die Umstände des 12. Jh. auf ihre Kommentare gewirkt haben. So berücksichtigt er die hermeneutische Arbeit von Balsamon, die Patriarchalakte und die kaiserlichen Novellen ihrer Chronologie nach, was ein neues Licht auf den ursprünglichen Sinn der Kanones wirft; 5) eine lange, ausführliche und aktuelle Bibliographie aus den Bereichen Geschichte und Philologie des Altertums (S. 537–555). Das Werk ist eine gelungene historische und kirchenrechtsgeschichtliche Arbeit und eine wahre Fundgrube für die Kommentare der „Zitierkanonisten“ in einer westlichen Sprache, die vor allem nichtorthodoxen westlichen Interessenten den Zugang zu den Quellen erleichtert. Bekanntlich sind diese Kanones nicht nur wichtige Bestandteile der Kirchengeschichte, sondern auch noch des aktuellen orthodoxen Kirchenrechts. Der Vf. will aber nicht die heutige Anwendung der Kanones oder der Kommentare in der orthodoxen Kirche und die damit verbundenen Probleme thematisieren. Z. B. werden der viel diskutierte c. 6 Quinisextum über die Ehe nach der Weihe oder c. 95 über die Konversion von Andersgläubigen zur Orthodoxie nicht thematisiert. Auch die heute aktuellen Themen des ökumenischen Dialogs, die aus der Anwendung des Quinisextums hervorgehen (z. B. c. 36 Pentarchie und der Verzicht des Papstes auf den Titel Patriarch des Westens oder c. 72 über konfessionsverschiedene Ehen) bleiben außer Acht. Absicht des Vf. ist es nicht, aktuelles Kirchenrecht zu präsentieren, sondern Instrumente dafür an die Hand zu geben und die entsprechende historische und philologische Vorarbeit zu leisten. Unter diesen Aspekt ist das Buch sowohl dem westlichen als auch dem orthodoxen Leser zu empfehlen, der darin mit Sicherheit eine fundierte, gut und spannend zu lesende Grundlegung des kirchenrechtlichen Schatzes der Orthodoxie finden wird.
Anargyros Anapliotis
(Rezensiert von: Anargyros Anapliotis)