Julia Weitbrecht / Andreas Bihrer / Timo Felber (Hg.), Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit (Encomia Deutsch 6) Göttingen 2020, V&R unipress, 345 S., 7 Abb., ISBN 978-3-8471-1097-2, EUR 45. – Da der Tod als unabweisbare Konstante der menschlichen Existenz einen Umgang mit sich erzwingt, hat das im Lauf der Jahrhunderte zu einer reichen Hinterlassenschaft an Ritualen und Praktiken, aber auch an Texten in Form von Berichten, Urkunden, Inschriften und nicht zuletzt einer breiten Literatur geführt. Wie sich in schriftlich niedergelegten Reflexionen verschiedene Bewältigungsstrategien zum Tod manifestieren, divergierende Zeitvorstellungen und Zeitsemantiken wirken, die Deutungsmuster und Erzählformen wandeln, das will dieser Band an ausgewählten literarischen und historiographischen Beispielen der Vormoderne mit größtenteils literaturwissenschaftlicher Perspektive herausarbeiten. So soll sich der „Blick öffnen für alternative Zeithorizonte und Sinnbildungsinstanzen jenseits wie auch innerhalb des Rahmens der christlichen Heilslehre“ (S. 13). Ausgangspunkt der Darlegungen war eine Tagung der Deutschen Sektion der „International Courtly Literature Society“ vom Juni 2018 an der Christian-Albrechts-Univ. zu Kiel, deren Akten damit vorgelegt werden. Der Band gliedert die Beiträge in vier Themenkomplexe, von denen der erste I. Zeit und Ewigkeit drei weit ausgreifende Überblicke bietet. Die folgenden Themenkomplexe nehmen Deutungsmöglichkeiten anhand einzelner Überlieferungen in den Blick: II. Textpraxis als Umgang mit Vergänglichkeit; III. Praktiken der Textaneignung; IV. Vermittlung und Indienstnahme zwischen Diesseits und Jenseits. Obwohl der Band eine überbordende Fülle von – hier nicht referierbaren – Beobachtungen zum Umgang mit Tod, Vergänglichkeit und letztendlichen Erfahrungen zwischen Bibel, Seneca und Luther ausbreitet, stellt sich doch beim Leser eine gewisse Ratlosigkeit ein. Ohne Frage bieten die Darlegungen über Zeit, Ewigkeit und Endzeiterwartungen oder über skizzierte Zeiträume, die als Fristen bei Tod und Seelentrennung sowie Auferstehung und Verwesung die Totenrituale strukturierten, die Beobachtungen über die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder das Erzählen vom Ende kollektiver Untergänge, von Troia, den Nibelungen oder Konstantinopel, und deren literarisch-historiographische Verarbeitung und gar die Darstellung historischer Uhrentechnologien reichlich Anregung und Stoff für weitere Forschungen. Es zeigt sich aber ebenso, dass die Vielzahl der dargelegten Fälle im Grunde für eine offenbar unerschöpfliche Menge an Deutungsvarianten im Umgang mit der Sterblichkeit steht, die sich irgendwie prinzipieller Strukturierung zu entziehen vermag. In Anlehnung an die Beobachtung von Hans-Werner Götz „Letztlich ist es unmöglich, das Ewige zu beschreiben“ (S. 32), ließe sich erweitern, dass es offenbar ebenso unmöglich ist, von den Vorstellungen über die letzten Dinge systematisch zu berichten. Trotz einer eher pragmatisch wirkenden Grobgliederung des Stoffs durch die Zuweisung auf die vier Themenkomplexe bleibt so vor allem ein Staunen über den Phantasiereichtum des Menschen bei der Bewältigung des Unausweichlichen und die Erkenntnis: Die Endlichkeit des Menschen generierte eine Unendlichkeit des eigenen Umgangs damit.
Olaf B. Rader
(Rezensiert von: Olaf B. Rader)