Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter, hg. von Volker Leppin unter Mitarbeit von Samuel J. Raiser (Das Mittelalter, Beiheft 16) Berlin / Boston 2021, De Gruyter, XI u. 661 S., 88 Abb., 12 Tabellen, ISBN 978-3-11-071378-7, EUR 119,95. – Zu den kaum ausrottbaren Klischees gehört die Annahme, dass man im MA menschliche Erfindungskraft und Phantasie geleugnet habe. Darin lebt bis heute das auf Augustinus zurückgehende Theologumenon fort, wonach schöpferische Potenz allein Gott vorbehalten sei. Dem widersprechen freilich nicht nur die zahlreichen Erfindungen in Architektur, Technik und Handwerk und die innovativen Leistungen ma. Dichter und Philosophen. Dem widerspricht nun auch der vorliegende Sammelband, der einen Gutteil der Beiträge zum 18. Symposion des Mediävistenverbandes, das vom 17. bis 20. März 2019 in Tübingen stattfand, dokumentiert. Leitendes Thema ist das Spannungsfeld von Kreativität und Nachahmung, wobei der Kopula „und“ im Obertitel eine zentrale Bedeutung zugemessen wird; es geht um die Beschreibung und Analyse von Phänomenen und Verfahren, die „nachahmend und schöpferisch zugleich“ sind (der Hg. L. in der Einleitung, S. 2), und um die „kreative Kraft der Nachahmung“ (S. 5), die als grundlegend für „kreative Prozesse im Mittelalter“ erachtet wird. Ganz neu ist dieser Ansatz nicht. Dass auch die kreativsten Dichter des MA nicht aus dem Nichts erschaffen, vielmehr sich an der Tradition abgearbeitet haben, ist in der mediävistischen Literaturwissenschaft hinreichend bekannt. Das Verdienst des Sammelbandes und seines Hg. ist es, das Zusammenspiel von Tradition und Innovation, von Kreativität und Nachahmung auch auf anderen Feldern der Kultur und damit als eine Grundstruktur menschlichen Seins und Handelns zur Geltung gebracht zu haben. Denn das Themenspektrum ist, wie bei einem großen transdisziplinären Tagungsband nicht anders zu erwarten, denkbar weit gespannt. Es erfasst nicht nur Änderungen und Neuerungen in der Literatur und den Künsten im engeren Sinn, sondern auch Phänomene in Wissenschaft, Religion, Architektur und politischem Diskurs. Der Großzügigkeit des Hg. ist zu verdanken, dass auch neue Technologien zur Erschließung mediävistischer Bestände vorgestellt werden können (vgl. Katharina Zeppezauer-Wachauer, S. 69–103, zur Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank, und Stefan Morent, S. 551–560, zur Erforschung des Gregorianischen Chorals mittels digitaler Instrumente) oder auch Beiträge Aufnahme fanden, welche die Begriffe des Rahmenthemas als Alternative verstanden und vor allem das Konzept der Nachahmung verfolgen (vgl. etwa Christiane Richard-Elsner, S. 227–261, zum Renner des Hugo von Trimberg, oder Krijn Pansters, S. 373–389, über imitatio Christi bei den frühen Franziskanern). Offen bleibt zunächst, was unter dem Begriff ‘Kreativität’ zu verstehen sei. Eine Definition unternimmt nur Christoph Markschies (S. 303–322) in Anlehnung an Jürgen Mittelstraß („eine Fähigkeit des Menschen und den auf dieser Fähigkeit beruhenden Prozess, ‘mit jeweils unverwechselbarer ‘Handschrift’ etwas Neues zu schaffen’“, S. 305f.), während Christian Kiening (S. 107–124) den Begriff historisiert, indem er seine Textbefunde an Überlegungen ma. Philosophen zur Idee menschlichen Schöpfertums zurückbindet. In keinem der untersuchten Fallbeispiele ist, wenn ich recht sehe, das Neue oder Neuartige, das im kreativen Prozess hervorgebracht wurde, als solches markiert (etwa durch Quellenfiktion oder andere Strategien, das theologische Erfindungsverbot zu unterlaufen, wie sie die ma. Dichter praktizierten). ‘Kreativität’ ist demnach ein Befund, der den Texten und anderen beobachteten Gegenständen ausschließlich auf hermeneutischem Weg abgewonnen ist – und entsprechend dehnbar der Begriff. Eher vorterminologisch ist auch der Begriff der Nachahmung verwendet. Erst die einzelnen Analysen erschließen, ob er jeweils als ästhetische, ethische oder soziale Kategorie zu verstehen ist. Die 38 Beiträge sind fünf Themenbereichen zugeordnet. Die erste Sektion fragt nach typischen „Verfahrensweisen“, die, indem sie an und mit der Tradition arbeiten, Kreativität freisetzen. Beispielhaft stehen dafür drei Aufsätze: Manuel Hoder (S. 9–25) gibt einen forschungsgeschichtlichen Überblick über das Konzept der compilatio und macht deren innovative Leistung an zwei volkssprachigen Dichtungen des 13. Jh., am Welschen Gast Thomasins von Zerklære und an Albrechts Jüngerem Titurel, anschaulich. Lisa Horstmann (S. 27–47) deutet in den Hss. beobachtbare Veränderungen im Bildprogramm des Welschen Gastes als Beispiele für Änderungen aus Rücksicht auf einen geänderten Rezipientenkreis bzw. als Umdeutung von schwer Verständlichem. Karin Janz-Wenig / Maria Stieglecker (S. 49–67) erläutern in einem bibliotheks- und überlieferungsgeschichtlichen Beitrag die Übernahme einzelner Predigten aus dem Hortulus Reginae in die geistliche Sammelhs. Klosterneuburg, Stiftsbibl., 845, und die Bedeutung der Gesamtbibliothek, für die dieser Codex geschrieben wurde. Diese drei Verfahren – Kompilation, Änderungen im Abschreibevorgang und Neukontextualisierung –, die Neues entstehen lassen können, schildern denn auch zahlreiche andere Beiträge. So beschreibt Claudia Brinker-von der Heyde (S. 191–209) in der zweiten Sektion – diese versammelt unter dem Titel „Imaginäre Welten“ literaturwissenschaftliche Beiträge – spezifische Verfahren der Kompilation bei der Insertion des Willehalm-Zyklus in die Arolser Weltchronik und fragt nach der Neukonzeption der Erzählung sowie nach der Rezeptionssteuerung durch die dem Text beigefügten Miniaturen. Und Michael Stolz (S. 157–169) thematisiert am Beispiel des Rappoltsteiner Parzifal Änderungen im Abschreibevorgang (Fehllesungen, Umgang mit Überschriften, Kürzungen), die eine eigene Textversion hervorbringen. Hierher stellen kann man auch Elke Zinsmeister (S. 469–484), die die auf Änderungen der Textgliederung beruhenden Fassungsunterschiede im Evangelienwerk des Österreichischen Bibelübersetzers als Entkontextualisierung und Neukontextualisierung beschreibt, ferner Wiebke Ohlendorfs (S. 627–647) Deutung der Verarbeitung des Nibelungenstoffs in Quentin Tarantinos Film Django Unchained als kreative Kompilation. Weitere Beiträge der literaturwissenschaftlichen Sektion – in die man auch Aleksej Burov (S. 423–432) zu Frau Ava und Nicolas Huss (S. 451–468) zum Jüngeren Titurel einbeziehen kann – thematisieren die kreative Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition. So zeigt etwa Susanna Fischer (S. 141–156) an der Trojadichtung des Hugo Primas, wie die Arbeit am literarischen Mythos u. a. durch die Performativitätsfiktion und die Einkreuzung biblischer Bilder in die antike Motivik neue Akzente setzt, und Nina Fahr (S. 171–190) untersucht die Eigenlogik des Bilderzyklus in der Münchener Parzival-Hs. G (Cgm 19). Manfred Kern (S. 211–226) verhandelt künstlerische Nachahmung am Beispiel der Bildersaal-Episode aus dem Tristanroman, die, insofern sie die Tradition von Ovids Pgymalionmythos fortsetzt, „einen Akt des nachahmenden Schaffens“ (S. 214) darstellt. Und einen nochmals anderen Akzent setzt Christian Kiening (S. 107–124), der an Petrarcas Itinerarium, an Oswalds von Wolkenstein Lied Kl. 18 und am frühen Prosaroman Fortunatus zeigt, wie Beschreibungen von Reisen zwischen der bekannten, ‘realen’ Welt und Imaginationen oszillieren und dabei neue literarische Welten hervorbringen. Zu vergleichbaren Beobachtungen gelangt Ingrid Baumgärtner (S. 563–596) anhand vormoderner Landkarten, die zwar nach spezifischen Vorgaben, aufgrund von Reisewissen, gestaltet sind, indes Raum für kreative Ergänzung und Ausdeutung lassen, also offen sind für die Neustrukturierung traditionellen Wissens. Die Fallstudien der Sektionen 3 und 4 („Welt der Höfe“ bzw. „Religiöse Welten“) binden die verschiedenen Formen kreativen Nachahmens stärker an die soziale Praxis zurück. Magdalena März (S. 263–282) zeigt innovative Lösungen in der politischen Architektur am Beispiel des königlichen Hradschin zu Prag und der herzoglichen Burg in Burghausen um 1500 und bringt diese Neuerungen mit einer Modernisierung der Ämterstruktur und der Einführung des Amts eines leitenden Baumeisters zusammen. Julia Burkhardt (S. 283–300) entdeckt Antikenbezüge (u. a. antikisierende Beinamen, Herkulesstatue) in neuen Kontexten, nämlich am Hof des ungarischen Königs Matthias Corvinus, die zugleich „innovative Deutungs- und Kommunikationsformen“ (S. 288) hervorbrachten. Christoph Markschies (S. 303–322) nimmt die permanente Neukonfiguration des spätantiken Manichäismus an der Seidenstraße, besonders im Uigurischen, in den Blick, die er als ein Kernelement dieser Religion fasst. Grażyna Maria Bosy (S. 323–337) fragt nach der Tradition, in der Petrarca mit seinem lateinischen Poem über Maria Magdalena steht, und nach den Akzenten, die er mit der Adaption des Stoffs setzt, während Heide Klinkhammer (S. 485–507) in einem kunsthistorischen Beitrag die Instrumentalisierung des Topos von der Weisheit Altägyptens und des Hermes Trismegistos im Kontext des Unionskonzils von Florenz 1438/39 beobachtet. Als kreative Nachahmung deutet Ulrike Treusch (S. 391–405) die Umakzentuierungen im Konzept von Thomas Hemerkens von Kempen De imitatione Christi, ablesbar an Auswahl, Kompilation und Reduktion der Textelemente, und die Rezeption in neuen frommen Kreisen. Zwei Beiträge befassen sich mit Tradition und Wandel in der Überlieferung des Gregorianischen Chorals. Peter Rückert (S. 531–544) zeigt Kontinuitäten und Brüche in der klösterlichen Schriftkultur anhand liturgischer Hss. auf, in deren Überlieferung sich Reform- und Erneuerungsprozesse spiegeln. Waltraud Götz (S. 545–549) bespricht hingegen die Gründe (ideologische, strukturelle, ästhetische) für Variantenbildung im Gregorianischen Choral. Etwas abseits steht in diesem Zusammenhang Marcel Bubert (433–450), der sich kritisch mit der These von der Neuerungsfeindlichkeit der ma. Scholastik auseinandersetzt und erörtert, wie historischen Formen der Kreativität methodisch beizukommen sei. Seine Beispiele für die produktive Aneignung und Transformation von juridischen und philosophischen Wissensbeständen setzen das Tagungsthema mustergültig um. Alles in allem bietet der Band Zugang zu einer Fülle von Vorstellungen und Verfahren in den Manuskript- und Objektkulturen des MA, die in produktiver Auseinandersetzung mit der Tradition Neues und sogar Originelles (auch nach heutigen Maßstäben) entwickelt haben. Wirklich überraschend ist dieses Ergebnis nicht. Ob das Klischee vom Erfindungsverbot damit auszurotten ist, wird man gleichwohl bezweifeln dürfen.
Dorothea Klein
(Rezensiert von: Dorothea Klein)