Tractatus contra Graecos, cura et studio Andrea Riedl (CC Cont. Med. 303) Turnhout 2020, Brepols, XCV u. 248 S., 2 Farbtafeln, ISBN 978-2-503-58874-2, EUR 89. – Dies., Kirchenbild und Kircheneinheit. Der dominikanische „Tractatus contra Graecos“ (1252) in seinem theologischen und historischen Kontext (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 69) Berlin / Boston 2020, De Gruyter, XIII u. 256 S., ISBN 978-3-11-069683-7, EUR 89,95. – Als Frucht einer Wiener katholisch theologischen Diss. von 2016/17 liegen sowohl die Edition eines Schlüsseltexts der lateinisch-griechischen Kontroversliteratur des 13. Jh. vor (im Folgenden: „Edition“), wie auch eine begleitende Untersuchung dieses Texts und seines literarischen und historischen Umfelds (im Folgenden „Untersuchung“). Beide Titel ergänzen sich gegenseitig und seien deswegen auch gemeinsam angezeigt. Die Edition klärt überzeugend eine etwas verquere Editionsgeschichte auf, innerhalb derer verschiedene Autoren genannt und Pantaleon von Amalfi durch Migne, PG 140 (Sp. 487–574), fälschlicherweise fast kanonisiert wurde. Die Aufarbeitung der hsl. Überlieferung (33 bekannte Hss., davon 2 verschollen) sichert nunmehr folgende Erkenntnisse: Der Traktat wurde von einem anonymen Dominikaner im Konvent in Konstantinopel 1252 verfasst und ist in der ältesten Fassung erhalten in Vat. lat. 4066, der Leit-Hs. für die Edition. Diese Form wurde von Bartholomaeus von Konstantinopel um 1305 überarbeitet und ergänzt. Außerdem wird deutlich, dass das Ganze eher ein Arsenal von Texten darstellt zu den zwischen Ost- und Westkirche kontroversen theologischen Streitthemen der Zeit: dem filioque im Glaubensbekenntnis, dem „Fegefeuer“ als besonderem Ort im Jenseits, dem Azymen-Streit (gesäuertes bzw. ungesäuertes Brot bei der Eucharistie) und natürlich dem päpstlichen Primat. Zusammen mit einem kurzen historischen Abriss (De quatuor causis scismatis) wird dieser Teil der Überlieferung der eigentliche Tractatus contra Graecos genannt. Dazu kamen aber in den einzelnen Überlieferungen noch verschiedene Appendices, in manchen Hss. bis zu neun, also zusätzliche Texte als Argumentationshilfen gegen die Griechen. Der dominikanische Autor führt die Auseinandersetzung auf erstaunlich hohem Niveau, indem er die griechischen Positionen nach den Originalquellen ausführlich darstellt. Er hat diese sogar selbst ins Lateinische übersetzt. Das geht so weit, dass er den Text der Konstantinischen Schenkung (Privilegium Constantini) aus der griechischen Exzerpt-Version des Theodor Balsamon († nach 1195) genommen und ins Latein rückübersetzt hat. Die Editorin ist der Meinung, dass das Gesamtwerk ursprünglich in einer (erhaltenen) lateinischen und einer (nicht erhaltenen) griechischen Fassung existiert haben müsse. Auch in den Entgegnungen zitiert der Autor hauptsächlich griechische – und damit allgemein anerkannte – Kirchenväter. Diese zwei Sprach- und Denkwelten, griechisch und lateinisch, stellten nicht nur ihn vor große Herausforderungen, sondern auch seine Editorin. Sie hat dabei gute Vermittlungsdienste geleistet. Teilweise ist die Zitierweise etwas gewöhnungsbedürftig, z. B. werden die antiken Konzilien schon mal nach Mansi oder dem Enchiridion symbolorum von Denzinger / Hünermann zitiert, aber unter Theologen ist das nicht ungewöhnlich. – Die gesondert erschienene Untersuchung will dieses Textarsenal (Tractatus und Appendices) historisch und theologiegeschichtlich einordnen und als „Zentraltext“ verstehen, der seine Wirkung bis zum Zweiten Konzil von Lyon (1274) mit seinem Unionsversuch entfaltete. Dabei wird – übrigens im Konsens mit der neueren Forschung – weniger das Jahr 1054 als Bruchstelle zwischen Ost- und Westkirche gewertet; die Entfremdung zwischen Ost und West wurde hauptsächlich durch den Vierten Kreuzzug und das Lateinische Kaiserreich in Konstantinopel (1204–1261) befördert. Nach der Darstellung dieser politischen Rahmenbedingungen und einer Vorstellung des gesamten Textcorpus gilt das Hauptinteresse der Vf. in Kap. 4 und 5 den theologischen Werken beider Seiten im 13. Jh. Zunächst sind es die Lateiner (mit Nikolaus von Cotrone und Thomas von Aquin, Humbert von Romans, Bonaccursius von Bologna und Bartholomaeus Constantinopolitanus), dann die Griechen (mit Niketas Choniates, Konstantinos Stilbes und Meletios dem Bekenner nebst zwei anonymen Schriften). Die klare Darstellung und Analyse dieser Schriften lassen die Vf. (verkürzt) zu folgendem wohlbegründeten Resümee kommen: Lateiner und Griechen argumentierten mit verschiedenen Gewichtungen und Perspektiven. So spielte z. B. der Primat des Papstes bei den Griechen eine weit weniger wichtige Rolle als das filioque. Dessen Einfügung ins Glaubensbekenntnis durch die Lateiner im 9. Jh. wurde von beiden Seiten rückwirkend als wichtigste „Bruchstelle“ gesehen, aber unterschiedlich bewertet. Während die Griechen an der Unveränderbarkeit des Textes von Nikäa I festhielten, werteten die Lateiner die Einfügung als legitime, ja notwendige Präzisierung des Glaubensguts durch den Papst, der gegenüber sich die Griechen als ungehorsam zeigten. Die aktuelle politische Geschichte des Lateinischen Kaiserreichs fand eigentlich nur in den griechischen Klagen Resonanz; die Lateiner nahmen keinen Bezug darauf. Im Übrigen differieren die verschiedenen Schriften darin, ob sie die Kirchen-Einheit als anzustrebendes Ziel sahen oder die jeweils eigene „Kirche“ als selbstgenügsame, rechtgläubige Einheit definierten, die gegen „Häretiker“ verteidigt werden müsse. Eigentlich ein modernes Thema!
Herbert Schneider
(Rezensiert von: Herbert Schneider)